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Die allerletzten Fragen

Von Katharina Schmidt

Sterbehilfe

Die Koalition will die Sterbehilfe in der Verfassung verankern, eine tiefgründige Debatte dazu fehlt aber.


Wien. "Ich möchte, dass du mir hilfst, Schluss zu machen." Der Vater war nie besonders einfühlsam oder rücksichtsvoll. Die übergewichtige Teenager-Tochter bezeichnete er als "kolossal" und riet ihr später zu einer Nasen-Operation, anstatt sie zu ihrem ersten Fernsehauftritt zu beglückwünschen. Und jetzt, als er 88-jährig nach einem Schlaganfall in den Windeln liegt, nicht mehr schreiben, sitzen oder feste Nahrung zu sich nehmen kann, legt er die Verantwortung für das Ende seines Lebens in ihre Hände.

In ihrer erst vor wenigen Tagen auf Deutsch erschienenen Erzählung "Alles ist gutgegangen" ("Tout s’est bien passé") schilderte die französische Schriftstellerin und Drehbuchautorin ("Swimming Pool") Emmanuèle Bernheim die letzten Monate im Leben ihres Vaters. Der Kunstsammler André Bernheim kam gerade gut gebräunt von einem Urlaub auf Ischia zurück, als ihn ein Schlaganfall niederstreckte. Die Ärzte sehen zwar keine "berauschende" Diagnose, aber es gelingt ihm, Stück für Stück ein bisschen Lebensqualität zurückzuerobern. Mit der Zeit kann er wieder klarer sprechen, sich aufsetzen, feste Nahrung zu sich nehmen. Und mit jedem weiteren Schritt in der Reha-Klinik hoffen die Töchter, dass der Vater seinen Wunsch revidiert. Doch im Gegenteil: Für ihn gibt es den Begriff Lebensqualität nicht mehr. Sein Zustand verbessert sich immer nur dann, wenn er hört, dass die Vorbereitungen mit dem Sterbeverein in der Schweiz, die die Töchter unfreiwillig aufgenommen haben, fortschreiten. In gleichem Maß, wie der Todeswunsch beim Vater intensiver wird, werden Emmanuèles schlaflose Nächte häufiger und die Prozac-Dosen höher.

Bernheims Schilderung ist beklemmend, hart an der Grenze zum Erträglichen und oft auch darüber. Aber sie beschreibt die Extremvariante einer Situation, in die jeder von uns mit hoher Wahrscheinlichkeit einmal gerät. Wir lieben unsere Verwandten und Freunde, wir wollen sie nicht gehen lassen. Irgendwann sind wir gezwungen, an ihrem Sterbebett zu stehen und unsere eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Denn dann geht es nur noch um die Frage, wie dem Sterbenden unnötiges Leiden erspart bleiben kann.

Wie nah darfder Staat ans Sterbebett?

Der unausweichliche Moment des Todes ist einer der intimsten im Leben eines Menschen. Ebenso wie die Geburt wird er durch die Möglichkeiten der modernen Medizin immer seltener dem - je nach Weltanschauung - Zufall, Schicksal oder der Bestimmung überlassen. Und das bringt wiederum die Politik in Reaktionsnot.

Die SPÖ-ÖVP-Koalition hat im Regierungsprogramm die Prüfung der "verfassungsrechtlichen Verankerung des Verbots der Tötung auf Verlangen und des Rechts, in Würde zu sterben" festgeschrieben. Das hat zahlreiche Fragen aufgeworfen, die endgültig wohl nicht zu beantworten sind, allerdings diskutiert werden müssen: Wie nah soll der Staat ans Sterbebett des einzelnen Bürgers herankommen? Wie detailliert will die Gesellschaft das Bekenntnis zum Recht auf Leben, das als Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ohnehin Teil der Verfassung ist, ausformulieren? Wie sinnvoll ist eine Verankerung in der Verfassung, wenn es ohnehin einfachgesetzliche Regelungen gibt? Und nicht zuletzt: Ist der Staat überhaupt in der Lage, Begriffe wie Würde und Leiden zu definieren, oder muss das nicht jedes Individuum für sich selbst entscheiden?

Mit dem Wunsch nach der Verankerung in der Verfassung will die Regierung auch einen Kontrapunkt zu einer nicht unproblematischen europäischen Entwicklung setzen: In den Niederlanden, Belgien und Luxemburg ist "Tötung auf Verlangen", also das, was gemeinhin unter aktiver Sterbehilfe bekannt ist, nicht nur erlaubt, sondern erfährt auch immer wieder Ausweitungen. Zum Beispiel hat der belgische Sozial- und Justizausschuss das seit 2002 existierende "Euthanasie"-Gesetz -der Begriff wird in Österreich und Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen Gräueltaten vermieden - erst Ende November 2013 erweitert. Grüne, Liberale, Sozialisten und flämische Nationalisten sprachen sich dafür aus, dass auch Minderjährige, für die es keine Heilungschancen mehr gibt, mit Zustimmung der Eltern getötet werden können.

In den Niederlanden ist die Büchse der Pandora noch weiter offen. Auch dort ist seit 2002 "Euthanasie" und Suizidassistenz erlaubt, seit kurzem können auch Neugeborene mit Behinderungen getötet werden. Der holländische Medizinethiker Hans van Delden lässt dieses Dammbruchargument nicht gelten. "Mit Blick auf die empirischen Zahlen ist klar, dass es keinen Anstieg bei der Euthanasie gab", sagt er. Aber es seien andere Gruppen dazugekommen - etwa Demente oder Menschen, die psychisch leiden. "Manche sagen, das ist ein Dammbruch, andere - nämlich die, die dafür gekämpft haben, dass Euthanasie auch für sie möglich wird - halten es für Gerechtigkeit", so van Delden.

Sterbehilfe-Tourismus aus Österreich in die Schweiz

Während "Sterbehilfe-Tourismus" in den Niederlanden unerwünscht und kaum möglich ist, ist das in der Schweiz anders. Dorthin zog es nicht nur André Bernheim, sondern zum Beispiel auch den österreichischen Schauspieler Herbert Fux. Aktive Sterbehilfe ist zwar auch in der Schweiz verboten, allerdings besteht dort die Möglichkeit zum assistierten Suizid, sofern die Beihilfe nicht aus selbstsüchtigen Gründen und unter bestimmten Bedingungen erfolgt. Mehrere Organisationen bieten ihren Mitgliedern "Freitodbegleitung" an. Während aber zum Beispiel "Exit" nur Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz betreut, wirbt "Dignitas" gezielt auch um Mitglieder aus anderen Staaten. Seit 1998 hat "Dignitas" 1701 "Freitodbegleitungen" durchgeführt, davon 36 mit österreichischen Mitgliedern. 2012 waren 148 Österreicher Mitglied bei "Dignitas".

In Deutschland ist Beihilfe zum Suizid erlaubt, allerdings können Ärzte oder Angehörige wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Durch dieses Konstrukt werden kommerzielle Sterbehilfe-Organisationen wie der vom ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch gegründete Verein "Sterbehilfe Deutschland" begünstigt. Der neue Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will "jede geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen" und hat damit eine breite Diskussion ausgelöst.

In Österreich befürworten laut einer Studie der Medizin Uni Graz aus dem Jahr 2010 78 Prozent die "passive Sterbehilfe", 62 Prozent die "aktive". Diese Zahlen sind für die Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, Christiane Druml, vor allem eines: Ausdruck eines tiefen Wunsches, selbstbestimmt sterben zu können. Sie plädiert für eine breite gesellschaftliche Diskussion über ein würdevolles Lebensende, allerdings ohne, wie es momentan sehr oft geschieht, die Begrifflichkeiten zu vermischen. Die Bioethikkommission hat dazu einen Leitfaden herausgegeben, in dem sie dazu rät, die bisherige Unterscheidung zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe aufzulösen. Stattdessen solle man von "Sterbebegleitung", "Therapie am Lebensende" und "Sterben zulassen" sprechen (siehe Kasten).

Hierzulande ist die derzeitige rechtliche Situation unmissverständlich: Die Beihilfe zum Suizid ist ebenso verboten wie Tötung auf Verlangen. Einer der wichtigsten Paragrafen im Strafgesetzbuch, was die Autonomie des Patienten angeht, ist jener zur "Eigenmächtigen Heilbehandlung" (§ 110). Demnach darf ein Arzt einen Patienten nie behandeln, wenn dieser es nicht wünscht - selbst dann nicht, wenn diese Entscheidung zum Tod führt. Was aber, wenn sich der Patient nicht mehr artikulieren kann? "Hinter jeder Maßnahme muss eine medizinische Begründung stehen, aus der sich ergibt, dass eine Verbesserung zu erhoffen ist", sagt Andreas Valentin, Präsident des Verbands der intensivmedizinischen Gesellschaften Österreichs. Erst, wenn diese Begründung feststeht, wird die Frage nach dem Willen des Patienten von Bedeutung.

Ansonsten kann zuvor eine Patientenverfügung hinterlegt worden sein. Diese ist dann für den Arzt verbindlich, wenn die medizinischen Handlungen, die zu unterlassen sind, konkret beschrieben sind, der Patient zum Zeitpunkt des Abschlusses der Verfügung die Folgen zutreffend eingeschätzt hat und von einem Arzt aufgeklärt wurde. Außerdem ist die Verfügung bei einem Notar, Anwalt oder bei der Patientenanwaltschaft zu hinterlegen. Trifft eine dieser Voraussetzungen nicht zu, so spricht man von einer "beachtlichen Patientenverfügung", die dem Arzt eine Stütze bei der Ermittlung des Patientenwillens sein muss. Dazu können noch nahe Verwandte oder das Pflegepersonal zur Beratung herangezogen werden. Die Letztentscheidung trifft immer der Arzt - außer, wenn eine Vorsorgevollmacht vorhanden ist, also im Vorhinein jemand nominiert wurde, für den Patienten zu sprechen.

Patientenwille kann nicht immer beachtet werden

Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind selten, wie Alexander Ortel von der Patientenanwaltschaft erklärt. "Die Frage, was Lebensqualität ist, muss jeder für sich selbst definieren", sagt er. Sollte eine kurative Therapie aussichtslos sein, dann hat der Arzt laut Valentin sogar die Pflicht, diese Therapie nicht weiter zu führen. Die Entscheidung, einen Sterbeprozess nicht durch sinnlos gewordene Maßnahmen zu verlängern, sei für Ärzte oft schwierig, aber der Mediziner kann bei seinen Kollegen ein steigendes Bewusstsein in dieser Frage feststellen.

Und dann setzt die wichtigste Phase im Sterbeprozess ein - die Palliativmedizin, die das Leid lindert. Zum Beispiel wird darauf geachtet, dass der Patient nicht erstickt oder keine großen Schmerzen hat. "Das Bild des sich im namenlosen Schmerz windenden Sterbenden ist eine Chimäre", sagt Michael Peintinger, Oberarzt im Göttlichen Heiland und Medizinethiker. Mit der modernen Schmerztherapie sei eine solche Situation meist auszuschließen.

Sämtliche Experten sprechen sich gegen eine Verankerung des Sterbehilfe-Verbots in der Verfassung aus. Und die Gründe sind immer ähnlich: Einerseits sei die einfachgesetzliche Definition "völlig ausreichend", meint etwa Valentin. Auch Druml hält eine Verankerung in der Verfassung für sinnlos, weil sie die Autonomie des Patienten einschränken würde: "Wir haben das Recht auf Leben in der Verfassung, wenn wir das Sterbehilfe-Verbot in die Verfassung schreiben würden, wäre es eine Pflicht zu leben."

Pflicht zu leben darf nicht Recht auf Leben ersetzen

Sehr wohl für eine Verankerung in der Verfassung plädiert die Bischofskonferenz, vor einigen Jahren haben sich auch die Caritas und der Dachverband Hospiz sowie die Österreichische Palliativgesellschaft dafür ausgesprochen. Heute will sich die Präsidentin des Dachverbands Hospiz, Waltraud Klasnic, dazu nicht mehr äußern. "Das ist eine politische Entscheidung. Der Patient hat aber nichts davon, ob etwas in der Verfassung steht oder nicht", solange damit nicht auch eine tatsächliche Verbesserung seiner Situation verbunden sei, sagt sie. Sie spricht sich klar für eine Beibehaltung der derzeitigen Gesetzeslage aus: Tötung auf Verlangen dürfe nicht erlaubt werden, alleine schon deshalb, um den Druck auf Ältere oder Pflegebedürftige in Richtung eines "sozialverträglichen Frühablebens" zu nehmen. Klasnic fordert einen Rechtsanspruch auf Palliativmedizin.

"Das Selbstwertgefühl der alten Menschen ist so schon genug beeinträchtigt", meint auch Peintinger und warnt vor einer Ökonomisierung der Debatte. Er findet es aber auch nötig, eine reife gesellschaftspolitische Debatte über die Mitwirkung an der Selbsttötung zu führen: "Ich bin kein Befürworter des assistierten Suizids, aber man muss darüber diskutieren können." Ähnlich Patientenanwalt Orel: "Assistierter Suizid würde viel Leid vermeiden helfen, es würde aber dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Ich habe kein Vertrauen in uns alle." Fast alle Experten lassen - zumindest durch die Blume - anklingen, dass in extremen Fällen eine Straffreiheit zu überlegen wäre.

Druml ist fest davon überzeugt, dass das Wichtigste ist, dass die Menschen im Kreise ihrer Familie sterben können. Herbert Fux musste ohne seine Frau sterben. Ebenso wie André Bernheim. Hätten seine Töchter ihn nach Bern begleitet, hätten sie ein strafrechtliches Problem bekommen. "Alles ist gutgegangen", sagt die Frau am Telefon. Er hat den Trank getrunken. "Er fand ihn bitter, er sagte, Champagner wäre ihm lieber. Wir haben Musik laufen lassen, ein Quartett von Beethoven, und er ist eingeschlafen."

Mehr dazu im Dossier SterbehilfeWissen: Terminologie


Der Unterschied zwischen aktiver (gezielte Herbeiführung des Todes), passiver (Unterlassen oder Reduktion von lebensverlängernden Maßnahmen) und indirekter Sterbehilfe (in Kauf genommene Beschleunigung des Todes durch zum Beispiel Morphium) wird in Fachkreisen mittlerweile angezweifelt. Vor allem der Begriff der passiven Sterbehilfe sei "ungerechtfertigt negativ konnotiert", heißt es in den Empfehlungen der Bioethikkommission. Sie schlägt stattdessen folgende Terminologie vor:

Sterbebegleitung: Maßnahmen zur Pflege, Betreuung und Behandlung von Symptomen. Dazu gehört auch das Stillen von Bedürfnissen wie Hunger. Dazu ist eine Einwilligung nötig.

Therapie am Lebensende: alle medizinischen Maßnahmen, einschließlich Palliativmedizin, die Lebensqualität verbessern, das Leben verlängern oder Leiden vermindern sollen.

Sterben zulassen: Lebensverlängernde Maßnahmen werden unterlassen, wenn diese nicht sinnvoll sind. Begleitung und Unterstützung des Patienten, wenn dieser es wünscht.

Strafrechtlich definiert sind Mitwirkung am Selbstmord (§78 StGB) und Tötung auf Verlangen (§77 StGB). Auf beide Straftaten drohen Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis fünf Jahren.

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Emmanuèle Bernheim
Alles ist gutgegangen. Deutsch von Angela Sanmann
Hanser Verlag, Berlin 2014, 208 Seiten, 19,50 Euro

Gian Domenico Borasio
Über das Sterben. - Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen.
dtv Verlag, München 2013, 208 Seiten, 10, 20 Euro

Bronnie Ware
5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. - Einsichten, die Ihr Leben verändern werden.
Deutsch von Wibke Kuhn

Arkana Verlag, München 2013, 351 Seiten, 20,60 Euro