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Im Gehen sich der Geschichte stellen

Von Alexia Weiss

Politik
Marie-Louise Weissenböck will mit dem Marsch zeigen, dass die Geschichten der Überlebenden nicht vergessen werden.
© Stanislav Jenis

Der erste österreichische "Marsch des Lebens" führt von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in die Lager nach Gusen und zum ehemaligen "Stollen Bergkristall".


Wien. Marie-Louise Weissenböck, Vorsitzende der Organisation "Christen an der Seite Israels - Österreich", hat den ersten "Marsch des Lebens" initiiert, der am 6. April von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen nach Gusen und zum ehemaligen "Stollen Bergkristall", einem in der NS-Zeit geheimen Standort der Rüstungsindustrie, führt. Ihr geht es darum, die "Decke des Schweigens" zu durchbrechen.

"Wiener Zeitung": Sie haben 2010 zum ersten Mal am "March of the Living" in Auschwitz teilgenommen. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?Marie-Louise Weissenböck: Ich war vier Tage dort - wir haben Auschwitz besucht, Krakau, uns Schindlers Factory angeschaut. Mich hat das irrsinnig betroffen gemacht, ich habe mich gefühlt wie ein Wasserhahn, der nicht mehr zuzudrehen war. Ich kenne Überlebende, man sieht sie als junge Kinder hier herumgehen und kann es nicht fassen.

Was ich unglaublich bewegend fand: Am "March of the Living" nehmen tausende jüdische Jugendliche aus aller Welt teil, und sie gehen diese viereinhalb Kilometer mit einer derartigen Kraft. Die Aussage war: Am Israel Chaj (Das Volk Israel lebt, Anm.).

Inwiefern unterscheidet sich der "Marsch des Lebens", der im April nach Gusen führen wird, von dem "March of the Living" in Auschwitz?

Beim "March of the Living" gedenken jüdische junge Leute gemeinsam mit Überlebenden und zeigen Optimismus für die Zukunft. Beim "Marsch des Lebens" gehen Überlebende der Lager in Gusen gemeinsam mit Menschen aus dem Tätervolk. Wir sagen: wir gehen mit euch, wir wandeln das in eine symbolische Strecke des Lebens um, dadurch, dass wir uns der Geschichte stellen. Die Überlebenden werden öffentlich geehrt, man gibt ihnen eine Stimme, man tritt ihnen öffentlich gegenüber. Diese "Marsch des Lebens"-Bewegung hat vor sieben Jahren in Tübingen begonnen. Initiator war Jobst Bittner, der zu dem Thema das Buch "Decke des Schweigens" veröffentlicht hat. Damals ging man von Tübingen, dem Ort, an dem SS-Kader ausgebildet wurden, nach Dachau. Mittlerweile gibt es solche Märsche in zwölf Nationen und über 80 Orten. In Österreich ist es nun aber der erste solche Marsch.

Wenn man an ein nationalsozialistisches Lager in Österreich denkt, fällt einem als Erstes Mauthausen ein. Warum haben Sie sich entschieden, Gusen in den Vordergrund des Marsches zu stellen?

Ich habe vor vier Jahren einen Überlebenden aus Gusen kennengelernt und war beschämt, dass ich darüber nichts wusste. Und es gab ja auch noch den "Stollen Bergkristall". Da gibt es dieses Buch von Yechezkel Harfenes "Slingshot of Hell", in dem steht, in Gusen ging es von Anfang an um Vernichtung durch Arbeit. Der Rabbiner, der das schrieb, meint, dass deshalb so wenig darüber bekannt ist. Ein Jude, der nach Gusen kam, hatte meist nur wenige Tage oder Wochen Überlebenschance, bei denen, die im Widerstand waren, waren es nur wenige Monate. Es gibt sehr wenige Überlebende - und bis heute keine historisch-wissenschaftliche Untersuchung zu Gusen.

Wie viele Menschen waren in den verschiedenen Lagern von Gusen interniert und wie viele überlebten?

Zwischen 1939 und 1945 wurden in Gusen an die 71.000 Menschen aus 27 Ländern registriert. Laut polnischen Forschern wurden davon rund 44.000 Menschen ermordet - wobei die Überlebenschance zwischen 1939 und 1944 sehr gering war. In Gusen gab es 1944 und 1945 doppelt so viele Inhaftierte wie in Mauthausen, weil sie für den "Stollen Bergkristall" so viele Leute gebraucht haben.

Woraus bestand die Arbeit im Lager Gusen?

Zunächst war es die Arbeit im Steinbruch. Ab 1943 ging es dann um Rüstungsindustrie. Messerschmitt war in Regensburg bombardiert worden. Im Winter 43/44 begann man, in der Region von Gusen einen Stollen zu bauen, in dem dann die Jetfighters hergestellt wurden. Hitler hat "jüdisches Menschenmaterial" für diesen Stollenbau angefordert. Es war eben Tötung durch Arbeit. Von alldem wissen viele Österreicher nichts. Das ist auch symbolisch für das Schweigen - das Schweigen damals, das Schweigen heute. Daher habe ich mir gedacht: Es wäre gut, mit dem Marsch ein Spotlight auf diese Region zu legen und zu sagen: Das ist österreichische Geschichte. Aber auch: Man darf die Aufarbeitung der Geschichte nicht nur der Region überlassen, wir müssen diese Last gemeinsam tragen.

Wir wird der Marsch konkret ablaufen?

Wir haben sechs Überlebende des Lagers Gusen II eingeladen. Am Samstag zeigen wir die Dokumentation "Six Million and One" von David Fisher, dessen Vater in Gusen gewesen war. Danach gibt es einen Begegnungsabend mit den Überlebenden. Der Marsch selbst startet am Sonntag um 13 Uhr von Mauthausen, den ersten Gedenkpunkt gibt es am Steinbruch. Der Weg führt dann weiter über Langenstein, Gusen I, Gusen II, St. Georgen bis zum "Stollen Bergkristall". Die Überlebenden fahren jeweils langsam mit Minibussen voraus. Insgesamt wird es fünf Gedenkpunkte geben, bei denen die Überlebenden sprechen. Es werden auch Kerzen angezündet, und Oberkantor Shmuel Barzilai wird das Kaddisch singen.

Was erwarten Sie sich von dem Marsch?

Ich hoffe, dass die Überlebenden merken, dass sich in Österreich etwas geändert hat. Dass wir bereit sind, das Unangenehme auszusprechen und uns der Vergangenheit zu stellen. Es ist wichtig für sie zu hören, dass ihre Geschichte nicht vergessen wird. Und ich hoffe, dass auch die Familien der Überlebenden ein Stück Heilung erfahren dadurch, was sie hier erleben.

Und daher haben Sie, wie Sie es formulieren, auch bewusst Menschen des Tätervolks hereingeholt.

Ja, wir haben im März in Linz ein vorbereitendes Seminar unter dem Namen "Decke des Schweigens" veranstaltet, das angeregt hat, das Schweigen in der eigenen Familie zu durchbrechen. Und auch das Schweigen in der Region, im Land. Es ist ein schwieriges Thema und ich dachte, es werden vielleicht 40 kommen. Und dann sind 300 Leute gekommen und viele sind auch nach vorne getreten, haben über das erzählt, was in ihrer Familie passiert ist und haben gesagt, ich bitte um Vergebung. Das zeigt einerseits ein starkes Bedürfnis nach Versöhnung und andererseits, dass es leichter fällt, damit umzugehen. Es ist Zeit, die Familiengeschichten zu erforschen, auch auf Seite des Tätervolks, damit eine Veränderung herbeigeführt werden kann.