
Derzeit findet aber eine Entwicklung in die andere Richtung statt. Die Bevölkerungspyramide dreht sich auf den Kopf, gleichzeitig wird es immer schwieriger, sich um älter werdende Familienmitglieder zu kümmern. Wird es in Zukunft normal sein, dass die Alten beiseite gestellt und dem ökonomischen Druck ausgesetzt werden, sich selbst das Leben zu nehmen?
Dieser ökonomische Druck wird oft beschworen. Als Wissenschafter stelle ich fest, dass es in der Schweiz und in Oregon, wo die Suizidassistenz - aber nicht die Tötung auf Verlangen - seit über 15 Jahren praktiziert wird, keine Anzeichen für die Existenz oder die Zunahme eines solchen Drucks gibt.
In den Niederlanden gibt es immer wieder Fälle, in denen der ökonomische Druck eine Rolle spielt.
Die Niederlande sind etwas anderes, weil dort die Tötung auf Verlangen, wenn sie durch einen Arzt geschieht, gesetzlich erlaubt ist. Ich halte persönlich das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen für richtig, auch wenn es meiner Ansicht nach in der Verfassung einer westlichen Demokratie nichts zu suchen hat. Der wichtigste Grund für dieses Verbot ist, dass durch die Möglichkeit, von einem Dritten getötet zu werden, die Hemmschwelle für die Beendigung der eigenen Existenz auf unvertretbare Wiese gesenkt wird. Es ist viel einfacher, einen Arzt zu bitten, dass er einen tötet, als es selbst zu tun, selbst wenn man das Glas hingestellt bekommt.
Zurück zur Pflege im Alter: Wohin führt das, wenn die Gesellschaft die Alten so ausgrenzt?
Es stellt sich die Frage des Menschenbildes einer Gesellschaft. Wie viel sind uns die Alten wert? Wir müssen entscheiden, wie viele Ressourcen wir bereit sind, in ein System zu investieren, das Lebensqualität im Alter anbietet. Eben damit die Menschen nicht sagen: Lieber bringe ich mich um, bevor ich ins Pflegeheim gehe. Es geht nicht um die Suizidassistenz, sondern darum, welche positiven Alternativen wir den Menschen bieten. Wenn alle Ärzte in Palliativmedizin ausgebildet sind und keine Übertherapie betreiben, stellen sich ganz viele Fragen plötzlich überhaupt nicht mehr. Wenn alle Ärzte vernünftig handeln würden, dann wäre sogar die Patientenverfügung obsolet - außer für Menschen wie die Zeugen Jehovas, die aus religiösen Gründen Therapien ablehnen, die ansonsten klar indiziert sind. Eine Patientenverfügung dient heutzutage paradoxerweise vorwiegend als Schutz vor ärztlichen Kunstfehlern am Lebensende. Aber das ist der falsche Weg: Eine Gesellschaft schützt sich vor Kunstfehlern am Lebensende nicht dadurch, dass sie Patientenverfügungen forciert, sondern dadurch, dass sie bessere Ärzte produziert. Und da sind wir wieder bei der Palliativmedizin als Pflichtfach.
Wenn man jemanden wie Sie interviewt, kommt man um diese Frage nicht herum: Wie und wo möchten Sie selbst sterben?
Wo, das hängt von der Situation ab. Im Prinzip würde ich gerne zu Hause sterben, aber vielleicht bin ich dann 95 Jahre alt und nicht mehr zu Hause. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, dann möchte ich sicherlich nicht den sogenannten schnellen schmerzlosen Tod sterben, sondern einen, auf den ich mich vorbereiten kann. Vor allem soll meine Familie so wenig wie möglich darunter leiden. Und ich würde mir sehr wünschen, in Frieden mit mir selbst zu sterben. Ein tibetischer Lama sagte einmal: "Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Sterbebett nicht schämen zu müssen."
Zur Person
Gian Domenico Borasio
Der gebürtige Italiener (Jg. 1962) studierte Medizin in München, wo er das Interdisziplinäre Zentrum für Palliativmedizin mitbegründete. Mit einer Brandrede vor dem Bundestag sorgte er dafür, dass Palliativmedizin in Deutschland verpflichtend in die Arztausbildung aufgenommen wurde. Derzeit lebt und arbeitet er an der Uni Lausanne. Der Autor von "Über das Sterben" (Wissensbuch des Jahres 2012) war auf Einladung des CeMM (Research Center for Molecular Medicine) der Akademie der Wissenschaften in Wien.