"Wiener Zeitung": "Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen Geburt- und Sterbevorgang. Beide laufen in den meisten Fällen am besten ab, wenn sie durch ärztliche Eingriffe möglichst wenig gestört werden", schreiben Sie in Ihrem Buch "Über das Sterben". Wie sieht die Realität aus?

Das Sterbehilfe-Verbot ist richtig, hat aber in der Verfassung einer westlichen Demokratie nichts verloren, sagt Borasio. - © Stanislav Jenis
Das Sterbehilfe-Verbot ist richtig, hat aber in der Verfassung einer westlichen Demokratie nichts verloren, sagt Borasio. - © Stanislav Jenis

Gian Domenico Borasio: Sowohl bei der Geburt als auch beim Sterben wird tatsächlich viel eingegriffen. Und immer wieder stellt man sich die Frage, ob das wirklich sinnvoll ist. Die zunehmenden Kaiserschnitt-Raten in Europa geben Anlass zur Sorge. Gleichzeitig weiß man mittlerweile, dass vieles, was man gerade bei sehr alten Menschen in der Sterbephase tut, diesen nicht hilft, sondern sie eher aktiv am friedlichen Sterben hindert. In solchen Fällen wäre es besser, ohne ärztliche Hilfe zu sterben. Zum Beispiel werden immer noch demente Menschen am Lebensende künstlich ernährt, oder man gibt Sterbenden Sauerstoff und Flüssigkeit, obwohl in fast allen Fällen klar ist, dass das nichts bringt - außer Nebenwirkungen.

Wie häufig kommen solche Behandlungsfehler vor?

Diese Fehler kommen leider häufig vor. Das kann man aber den Ärzten nicht vorwerfen, denn sie haben es nie gelernt. Solange Palliativmedizin nicht Pflichtlehr- und Prüfungsfach ist, wird sich daran nichts ändern. Wir haben es geschafft, dass sie in der deutschen und schweizerischen Medizinerausbildung Pflichtfach geworden ist. Jetzt wäre es wirklich an der Zeit, dass Palliativmedizin auch in Österreich zum Pflichtfach wird. Es gibt hier ja anscheinend politische Unterstützung für die Palliativmedizin, aber die bringt nicht viel, wenn man nicht dort beginnt, wo die größten Probleme sind: bei den Kompetenzen der Ärzte am Lebensende.

Auch bei den Hausärzten gibt es hier Defizite, die ja am nächsten beim Patienten sind und daher am besten geschult sein sollten.

Hausärzte sind oft sehr engagiert bei der Begleitung ihrer Patienten. Leider müssen sie viel durch Versuch und Irrtum lernen. Ältere erfahrene Hausärzte haben schon vieles gelernt, aber es ist natürlich etwas spät, wenn man ein ganzes Berufsleben braucht, um sich Dinge anzueignen, die man schon das ganze Berufsleben hätte anwenden können.

Je früher Palliativtherapie ansetzt, desto besser sind die Resultate. Dazu muss aber der Arzt wohl erst einmal einsehen, dass seine ursprüngliche Therapie keinen kurativen Effekt mehr hat.

Das ist nicht unbedingt der Fall. Palliative Care fängt viel früher an. Der Sinn der Palliative Care ist, frühzeitig den Blickwinkel der Lebensqualität zu integrieren. Und eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass erstaunlicherweise die Lebensdauer von schwerkranken Krebspatienten um drei Monate verlängert werden kann, wenn frühzeitig Palliativmediziner hinzugezogen werden. Das Fehlen der Palliativmedizin hat mehrere Folgen: Erstens geht es den Patienten schlechter. Zweitens werden oft für den Patienten ungünstige Entscheidungen getroffen und es wird im Zweifelsfall übertherapiert. Damit sterben die Menschen nicht nur schlechter, sondern auch oft schneller und fast immer teurer. Davon profitiert allerdings wiederum die Gesundheitsindustrie - das ist einer der Gründe dafür, dass es die Palliativmedizin im Gesundheitssystem nicht leicht hat.

Aber ist nicht auch das Ego des Arztes ein Grund dafür, dass zu spät mit Palliativmedizin begonnen wird?

Es ist weniger das Ego des Arztes als seine Angst vor dem eigenen Sterben. Ärzte werden im Studium nicht mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert, sondern erleben ein gewisses Allmachtsgefühl der Medizin. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man bei der ganzen Euphorie über die neuen medizintechnischen Möglichkeiten leider aus dem Blickfeld verloren, dass alle Menschen irgendwann sterben müssen. Hinzu kommt die paternalistische Haltung der Ärzte, die von vornherein besser wissen, was das Beste für die Gesundheit des Kranken ist. Wenn man den Tod als die ultimative Abwesenheit von Gesundheit definiert, dann ist jedes ärztliche Bemühen letztlich zum Scheitern verurteilt, und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man erweitert den Gesundheitsbegriff über das Medizinische hinaus und hört auf die Patienten. Oder aber man
verdrängt konsequent die Tatsache, dass alle Menschen sterben müssen. Wie wir leicht sehen können, ist das Medizinsystem in den letzten 50 Jahren den zweiten Weg gegangen - mit fatalen Folgen für die Betreuung am Lebensende.

Können Sie das quantifizieren?

Eine internationale Studie hat gezeigt, dass in europäischen Ländern bis zu 50 Prozent der Menschen sterben, nachdem eine Entscheidung getroffen wurde, eine potenziell lebensverlängernde Therapie nicht zu beginnen oder einzustellen - wobei wir aus anderen Studien wissen, dass solche Entscheidungen in der Regel zu spät gefällt werden. Hier geht es also um die sogenannte "passive Sterbehilfe" beziehungsweise das "Sterben lassen" Es ist davon auszugehen, dass von den anderen 50 Prozent mindestens die Hälfte ebenfalls der passiven Sterbehilfe bedurft hätte, diese aber nicht durchgeführt wurde. Das heißt, die Frage des "Sterben lassens" betrifft etwa 75 Prozent der Menschen, vorsichtig geschätzt. Im Verhältnis zum assistierten Suizid - daran sterben in der Schweiz 0,7 Prozent - ist diese Dimension des Sterbens also 100 Mal wichtiger. Trotzdem wird hundert Mal mehr über die "Sterbehilfe" gesprochen als über das Sterben lassen. Der Diskussionsstand hat also mit der Realität wenig zu tun.