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Die Graz-Connection

Von Petra Ramsauer

Politik

Die steirische Landeshauptstadt ist seit 50 Jahren zentraler Knotenpunkt der Muslimbruderschaft in Europa.


Graz. Erst knapp zwei Wochen ist es her, als in Graz eine weitere - der mittlerweile zahlreichen - Veranstaltungen des "Internationalen Koordinierungsrates der ägyptischen Gemeinde in Österreich" über die Bühne ging: "Die Revolution geht weiter", unter diesem Motto trafen sich am 24. März prominente Sympathisanten der Muslimbruderschaft. Zu den Gästen zählte etwa der ägyptische Historiker Mohammed al-Gawady. Er ist Teil der Führungselite der Gruppe, die angesichts der Unterdrückungswelle in ihrem Mutterland Ägypten die Organisation im Ausland nicht bloß verwaltet, sondern auf eine neue Struktur einschwören will. "Wir planen den Aufbau einer ägyptischen Exil-Regierung mit Sitz in mehreren Städten Europas", so al-Gawady.

Rund 1300 Mitglieder der Muslimbruderschaft gibt es in Österreich, die lange so gut wie unsichtbar waren. Jetzt allerdings häufen sich "Anti-Coup"-Demonstrationen und Veranstaltungen wie jene im März in Graz. Für die österreichischen Behörden gab und gibt es bis dato keinen Grund gegen die Bruderschaft vorzugehen. "Wir treten nur dann in Aktion, wenn Verdachtsfälle vorliegen", so ein Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz. Und solche gab es nicht.

Einmal mehr illustrierte aber dieser hochrangig besetzte Event die Rolle von Graz als zentraler Knotenpunkt des internationalen Netzes der Muslimbruderschaft; die nicht bloß in Ägypten, sondern in 79 Ländern weltweit aktiv ist. Bereits vor einem halben Jahrhundert wurde die Stadt zu einem der ersten Brückenpfeiler der Expansion der Islamisten in Europa; später lebte hier ein enger Mitarbeiter des Muslimbruder-Präsidenten Mursi und hochrangiger Europa-Funktionär.

Umzugspläne: Hauptquartier von London nach Graz?

Für Kenner der Gruppe war es deshalb wenig überraschend, als die britische Tageszeitung "Daily Mail" vergangenes Wochenende auf ihrer Internet-Seite berichtete: "Die Muslimbruderschaft will ihr Hauptquartier von London nach Graz verlegen." Beweise gab es für diese Meldung nicht, man berief sich auf "anonyme Informanten" aus Kreisen der Bruderschaft. Als Argument wurde genannt, es sei nötig, London zu verlassen, nachdem Premierminister David Cameron ankündigt hatte, etwaige Terror-Verbindungen der Muslimbruderschaft untersuchen zu lassen und ein mögliches Verbot in Großbritannien zu erwägen. Mittlerweile hat ein Ermittler-Team, das sich aus den beiden Geheimdiensten MI6 und MI5 zusammensetzt, seine Arbeit aufgenommen.

Der Generalsekretär der "Internationalen Organisation der Muslimbruderschaft", Ibrahim Munir, dementierte die Umzugspläne postwendend, wenn auch vage. Im Nordwesten Londons habe man soeben eine neue Zentrale eröffnet. "Außerdem", so Munir, "werden in London keine Entscheidungen über das Schicksal der Gruppe getroffen. Unser Büro ist lediglich ein Ort für Treffen und Diskussionen."

Mit diesen Aussagen bekräftigte der Funktionär abermals die Linie der Bruderschaft, die in ihrem über 80-jährigen Bestehen zur Überlebensversicherung wurde: Über Struktur, Organisation und Aufbau, aber auch über die Mitglieder werden keine klaren Aussagen getroffen. Jahre dauert es, bis jemand offizielles Vollmitglied ist: Teil des Trainings ist die strikte Geheimhaltung aller Interna. Und so wäre es die eigentliche Überraschung, würde die Muslimbruderschaft quasi per Presse-Aussendung über einen Umzug nach Graz berichten.

Millionen Mitglieder werden vom Exil aus geführt

Faktum ist vielmehr, dass angesichts der rigiden Unterdrückungswelle der Bewegung in Ägypten seit dem Sturz ihres Präsidenten Mohammed Mursi die Führung der Millionen Mitglieder in Ägypten und dem Rest der Welt vom Exil aus gesteuert wird. Nicht bloß von London aus, sondern durch ein weit verästeltes Netz. Es sind organisatorische Bypässe, die vorsorglich schon Jahre zuvor gelegt wurden. Laut Hazem Hosny, Politologe an der Uni Kairo, hatte die Bruderschaft den Notfall gut vorbereitet: "Alte Verbindungen rund um den Globus werden nun dafür sorgen, dass die Bruderschaft diese Unterdrückungswelle überstehen wird."

Und hier spielt Graz als Wahl-Heimat einflussreicher Exil-Brüder längst eine wesentliche Rolle. Vor über einem Jahrzehnt ließ sich der 48-jährige Ayman Ali in der Stadt nieder, die er während seiner Arbeit für islamische Hilfsorganisationen in Zeiten der Balkan-Kriege kennenlernte. Neben seiner medizinischen Karriere stieg er indes auch in der Hierarchie der Bewegung auf; wurde Vizepräsident der "Föderation Islamischer Organisationen in Europa". Dieser Verein gilt als Dachorganisation von Europas Gruppen, die zum Netzwerk der Muslimbruderschaft gehören.

Dies schuf die Basis für einen massiven Karrieresprung Ayman Alis im Jahr 2012. Nachdem der Muslimbruder Mohammed Mursi zum Präsidenten Ägyptens gewählt worden war, berief dieser den Wahl-Grazer in sein Kabinett. Erst als Berater für Auslandskontakte, später als Sprecher, wurde er zu einem der wichtigsten Mitarbeiter des Staatschefs. Und er folgte ihm, im Juli 2013, nach dessen Sturz ins Gefängnis, wurde mit ihm im November 2013 wegen Hochverrat angeklagt. Diese direkte Betroffenheit seiner in Graz lebenden Familie erklärt auch, warum die Stadt heute zu einem Fokus ihrer Protestbewegung wurde.

Doch bereits in den Jahren zuvor war mehr als spürbar, dass ein hochrangier Bruder samt Gefolgschaft in Graz residierte. Ein Indiz: Im Jahr 2008 stellte sich heraus, dass bei der Vortragsreihe, "Der Islam in Österreich und Europa" an der Universität Graz, die Hälfte der 14 Vortragenden aus dem Umfeld der Bruderschaft stammten. Damals (und viele Male zuvor) war auch Kamal al-Helbawy in Graz zu Gast; der damalige globale Sprecher der Muslimbruderschaft mit Sitz London.

Diese Tradition als Hafen von Muslimbrüdern begann aber nicht erst mit der Ära Ayman Alis. In den späten 1950er Jahren kam bereits Youssef Nada nach Graz. "Seit ich 17 Jahre alt bin, gehöre ich zur Muslimbruderschaft, und das wird so bleiben, solange ich lebe", so der heute 83-Jährige, der im Baugeschäft und als Bankier nicht bloß Millionen für sich scheffelte. Mit der Gründung der Al-Tarqwa-Bank 1988 schuf er das wichtigste Finanzierungsinstrument der Muslimbruderschaft und galt über Jahrzehnte als ihr "Finanzminister".

Alles begann mit einer Feta-Kooperation

Der Sohn eines Molkerei-Besitzers aus Alexandria schaffte dank eines Zufalls den Sprung nach Europa: Eine Grazer Molkerei kontaktierte seinen Familienbetrieb, um eine Kooperation bei der Feta-Produktion anzuregen. Nada ergriff die Chance, um weiterer Verfolgung unter dem damaligen Präsidenten Gamal Nasser zu entgehen. Er zog nach Graz, von wo aus er mit Gesinnungsgenossen in Deutschland und der Schweiz die Europa-Zentrale der Bruderschaft aufbaute.

Heute lebt er zurückgezogen in der Schweiz, und in Kürze wird seine Biographie auf Deutsch erscheinen, in der ein denkwürdiger Satz zu lesen ist: "Nichts, was je über die Bruderschaft geschrieben wird, stimmt. Sie ist viel zu komplex, damit Außenseiter sie verstehen."

Petra Ramsauer: Die Journalistin und Autorin (Jahrgang 1969) hat im März ihr aktuellstes Buch zum Thema veröffentlicht: "Muslimbrüder. Ihre geheime Strategie. Ihre globales Netzwerk". Molden Verlag, Wien 2014, 208 Seiten, 19,99 Euro