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Titos Enkel - zwischen Kult und Kritik

Von Ljubisa Buzic

Politik

34 Jahre nach seinem Tod ist Tito für viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien immer noch eine Kultfigur.


Wien. "Die Österreicher verstehen nichts von Tito", meint Darko Miloradovic. Im knallbunten Kapuzensweater sitzt der 32-Jährige am Schreibtisch seines Büros in einem Altbau im 2. Bezirk - hinter ihm ragt ein übergroßes schwarzweißes Porträt des einstigen Partisanen-Führers und jugoslawischen Staatsoberhaupts Josip Broz, genannt Tito, auf. Tito-Nostalgiker genannt zu werden, ist für ihn ein Kompliment.

Sein Büro ist gespickt mit kleinen Tito-Souvenirs: Im weißen Designer-Bücherregal steht eine kleine Tito-Büste, daneben eine Flasche Tito-Wein. Rund um den Todestag des einstigen jugoslawischen Staatsoberhaupts am 4. Mai und seinem Geburtstag am 7. Mai werden Tito und das ehemalige Jugoslawien immer wieder zum Gesprächsthema. In den sozialen Netzen tauchen dieser Tage vermehrt Tito-Erinnerungen auf: Tito, wie er mit einer Kleinbildkamera ein "Selfie" vor dem Spiegel in seiner Villa macht; Tito, wie er mit starkem jugoslawischen Akzent Englisch spricht; Tito, wie er mit einem Leoparden spielt. 34 Jahre nach seinem Tod ist der einstige Partisanen-Führer für viele Menschen aus Ex-Jugoslawien immer noch eine Kultfigur.

Begründet wurde der Mythos durch Titos Rolle als Anführer der kommunistischen Partisanen-Bewegung im Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation und die faschistische Ustasa-Bewegung Kroatiens im Zweiten Weltkrieg. Die "Selbstbefreiung Jugoslawiens" erlaubte es ihm, sich erfolgreich von Stalins Sowjetunion abzugrenzen und in Jugoslawien einen "dritten Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu etablieren.

Tito gehörte zu den Begründern der Blockfreien-Bewegung während des Kalten Kriegs und unterhielt sehr gute Beziehungen zum Westen. Als Staatsoberhaupt Jugoslawiens war er eine schillernde Figur. Er empfing Hollywood-Stars und Staatsmänner auf seiner Privatinsel Brijuni - ein beliebtes Gastgeschenk waren übrigens exotische Tiere für seinen privaten Zoo.

Als Josip Broz am 4. Mai 1980 in einem Krankenhaus in Ljubljana starb, stürzte Jugoslawien in kollektive Trauer. Bei der Beisetzung am 8. Mai in Belgrad waren Könige, Staatspräsidenten und Minister aus 127 Ländern anwesend - mehr als bei jedem anderen Staatsbegräbnis im 20. Jahrhundert. Heute noch ist das Tito-Mausoleum in Belgrad, das "Haus der Blumen", ein Ort, der von ausländischen Touristen besucht wird.

"Tito war ein Polit-Star", fasst Miloradovic zusammen. Für ihn ist Tito in einer Reihe mit linken Symbolfiguren wie Che Guevara, Fidel Castro und Hugo Chavez einzuordnen. Wenn man ihn auf kritische Fragen zu Titos Regime anspricht, kontert er, dass ausgerechnet die FPÖ vor einigen Jahren versucht hatte, Tito das große Ehrenzeichen der Republik Österreich abzuerkennen. Für Miloradovic ist klar, auf welcher Seite er steht.

Geheime Nostalgie

Der 32-Jährige gehört zu der Generation, die nach Titos Tod geboren wurde und den Zerfall Jugoslawiens als Jugendliche mitbekommen hat. Selbst in Österreich aufgewachsen, kennt er vieles nur aus Büchern, Filmen und Erzählungen. Welche Bedeutung Tito für das ehemalige Jugoslawien hatte, ist für Miloradovic trotzdem klar: "Vor Tito gab es Chaos und Krieg - und nach Tito gab es wieder Chaos und Krieg."

Dass Tito genauso wie Che Guevara längst ein Teil der Populärkultur geworden ist, weiß auch Ana Tajder. Die 39-jährige Autorin stammt aus Zagreb und kam als Jugendliche nach Wien. In ihrem autobiografischen Roman "Titoland" beschreibt sie ihre Kindheit im Jugoslawien der 1970er und 80er Jahre. "Offiziell wird diese ganze Zeit in Kroatien verdammt. Aber ich weiß, dass es ganz viele gibt, die noch eine geheime Nostalgie hegen", sagt die Autorin. Vor allem seit der Wirtschaftskrise sehnen sich viele Menschen nach der alten Sicherheit. So erklärt sie sich die anhaltende Jugoslawien-Nostalgie in weiten Teilen der Bevölkerung. "Im Vergleich zu heute ging es vielen in Jugoslawien gut. Sie hatten Arbeit, staatliche Wohnungen, kostenlose Ausbildungen, konnten reisen und waren im Ausland willkommen."

Als Tito starb, war Tajder gerade einmal fünf Jahre alt. Trotzdem war er in ihrer Kindheit allgegenwärtig. In Klassenzimmern, im Fernsehen, in Liedern von Titos Partisanen, der Jugendbewegung, der sie angehörte. "Es gibt viele gemeinsame Erinnerungen an Jugoslawien, die heute noch verbindend wirken", erklärt die Autorin.

Einer, der Titos Jugoslawien noch als Erwachsener erlebt hat, ist Borko Ivankovic. Der 65-Jährige kam Ende der 1970er als Übersetzer der jugoslawischen Botschaft nach Österreich und war seit den 1990ern im Wiener Integrationsfonds tätig. Er erinnert sich, wie man in den jugoslawischen Kulturvereinen in Wien die Bilder von Titos Begräbnis im österreichischen Fernsehen verfolgt, wie man Verwandte in der Heimat angerufen hatte. Noch heute vergeht keine Woche, ohne dass eine der vielen nostalgischen Kettenmails mit Bildern, Filmen oder Liedern aus dieser Zeit in Borkos E-Mail-Eingang landet.

"Nationale Fragen nie geklärt"

Die Trauer nach Titos Tod war jedenfalls echt, ebenso wie die Besorgnis, wie es mit Jugoslawien weitergehen sollte, erinnert sich Ivankovic. Tito war die zentrale Figur für das Bestehen des Vielvölkerstaates. Mit seinem Tod verbinden viele heute den Zusammenbruch des Systems und den Anfang vom Ende Jugoslawiens.

Die Frage, ob das Vakuum nach Titos Tod für den späteren Krieg verantwortlich war, ist für den bosnischstämmigen Politikwissenschaftler Vedran Dzihic zu kurz gegriffen. Der Krieg hätte tiefergehende Gründe gehabt: Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit holte das Land in einer Zeit der Wirtschaftskrise wieder ein. Die nationalen Fragen wurden nie geklärt, stattdessen wurde die Parole "Brüderlichkeit und Einigkeit" gepredigt. Eine nüchterne Analyse der Fakten reißt einen aus dem mythologisierten Geschichtsbild heraus. "Der Krieg war keinesfalls unvermeidbar. Vieles wäre durch eine andere Reaktion der Internationalen Gemeinschaft zu verhindern gewesen", betont Dzihic.

In den 1980er Jahren hatte es erste Gespräche zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Jugoslawien gegeben. Das Land war damals von allen osteuropäischen Staaten am weitesten entwickelt. Durch eine schnellere Integration und wirtschaftliche Hilfe hätte vieles abgefangen werden können, ist Dzihic überzeugt. "Jugoslawien ist nicht in den Krieg gestürzt, weil das Staatsoberhaupt gestorben ist. Verantwortlich waren die konkreten Ereignisse und Menschen."

Ausblenden dunkler Flecken

Dass die Jugoslawien-Nostalgie heute eine aussöhnende Funktion zwischen den Nachfolgestaaten haben könnte, hält er für möglich. Bedenklich findet er das Ausblenden dunkler Flecken. Düstere Kapitel wie Goli Otok, die gefürchtete Gefängnisinsel für Regimegegner an der jugoslawischen Adriaküste, werden von den Nostalgikern als unbedeutende Details im großen Ganzen weggewischt. Andere sehen diese Themen als Argumente, um das gesamte damalige System zu diskreditieren. "Sowohl die Hinwendung als auch die Kritik sind oft undifferenziert und sehr emotional", erklärt Dzihic. "Tito wird von vielen als Stellvertreter für das damalige System gesehen. Und je nachdem, was man damit verbindet, wird er verteufelt oder verklärt."

Dass eine Aussöhnung auch ohne eine kollektive Kultfigur funktioniert, merkt er bei seinen Aufenthalten in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Schon jetzt gibt es viele Bereiche, vor allem in der Wirtschaft und Kulturindustrie, in denen es einen regen Austausch gibt. "Es gibt die Hoffnung, dass die Rationalität von Dingen, die einen Alltagswert haben - wie Musik, Sprache oder Wirtschaft -, die Irrationalität
der Kriegserlebnisse überwinden können."