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"Die Decke der Zivilisation ist dünn"

Von Katharina Schmidt

Politik
Der Erste Weltkrieg war der Wegbereiter für die Konzentrationslager, sagt Baumgartner.
© Stanislav Jenis

Gerhard Baumgartner, der neue Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands, im Interview.


"Wiener Zeitung": Am 8. Mai wird zum zweiten Mal ein "Fest der Freude" statt des "Totengedenkens" der Burschenschafter am Heldenplatz gefeiert. Was bedeutet dieser Schritt für die Erinnerungskultur in Österreich?Gerhard Baumgartner: Das ist Ausdruck eines geänderten Geschichtsbewusstseins. Ein Großteil der Bevölkerung hat die Kapitulation wahrscheinlich als Niederlage erlebt. Nicht, weil alle so begeisterte Nazis waren, aber weil die Involvierung in den Krieg mit irrsinnigen persönlichen Opfern verbunden war. Auch die ersten Tage der Besatzung waren nicht nur Tage des Jubels, da hat es Vergewaltigungen und Übergriffe gegeben. Wenn etwas mit so großen Opfern verbunden war wie dem Tod der Ehemänner und Söhne, fällt es schwer, sich einzugestehen, dass man einer verrückten Ideologie nachgelaufen ist. Jetzt ist die Kriegsgeneration großteils tot, und für die Nachkriegsgeneration hat der 8. Mai eine andere demokratiepolitische Bedeutung.

Was wurde aus dem Heldenmythos?

Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht man nur an den Heldenmythos des Ersten Weltkriegs anzuschließen, der ja auch schon bröckelig war. Ich halte den Ersten Weltkrieg für ein irres Blutbad, das nicht zufällig ganz schlecht historisch aufgearbeitet ist und von der Geschichtsschreibung lange verniedlicht wurde. Dabei kann man den Zweiten Weltkrieg - und auch Phänomene wie die Konzentrationslager - ohne den Ersten kaum verstehen.

Inwiefern war der Erste Weltkrieg der Wegbereiter für die Konzentrationslager?

Schon im Ersten Weltkrieg gab es ein riesiges System an Kriegs- und Zivilgefangenenlagern. Die Militärverwaltung hat die Personen, die dort eingepfercht wurden, behandelt wie "Untermenschen". Die Militärbehörden haben ganze Landstriche, die sie an der Front gebraucht haben, entvölkert und Personen, die ihnen verdächtig erschienen, umgesiedelt. Österreich war überzogen mit Lagern, in denen man die Leute fallweise wegen geringster Vergehen aufgehängt hat. Auch Mauthausen ist nicht zufällig dort, wo es ist: Dort waren auch ein serbisches Kriegsgefangenenlager und ein Friedhof mit tausenden Gräbern. Die Software und die Hardware, wie man so etwas macht, haben die Menschen im Ersten Weltkrieg gelernt. Das zweite Phänomen ist die Verrohung, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt.

1993 ist Kanzler Franz Vranitzky erstmals vom Mythos, Österreich sei das erste NS-Opfer gewesen, abgerückt. Trotzdem hat es fast 20 Jahre gedauert, bis es zu einer kritischen Auseinandersetzung etwa mit der Kranzniederlegung in der Krypta im Heldentor kam. Warum brauchen derartige Prozesse in Österreich immer so lange?

Das Hauptproblem ist, dass es nach dem Krieg zwei unterschiedliche Narrative gibt: Das offizielle von Österreich als dem ersten Opfer haben höchstwahrscheinlich die Engländer aus politischen Gründen erfunden. Das wurde in der Moskauer Erklärung auf dem Tablett dargeboten und von Österreich dankend angenommen, weil es die Möglichkeit bot, sich nach dem Krieg im Westen Europas wiederzufinden - zu unser aller Glück. Dagegen stehen die familiären Narrative: In der Nachkriegszeit wuchsen alle mit dem Dilemma auf, dass das, was familiär kommuniziert wurde, mit dem in der Schule Gelernten nicht mehr übereinstimmte. Als Gesellschaft haben wir uns einen bequemen Ausweg gesucht und den Mainstream-Diskurs gewählt, nach dem Motto "Wir sind Antifaschisten, das war alles furchtbar, aber Auschwitz ist sehr weit weg, und nur ganz wenige von uns waren dort". Dadurch wurde das derealisiert - die Täter wurden als Monster wahrgenommen. Dann kamen wir schmerzlich darauf, dass auch viele aus der Generation unserer Väter und Großväter daran beteiligt waren. Wir haben eine antifaschistische Einstellung, aber für uns ist die Nazizeit ein großer Schatten - und das Objekt, das diesen Schatten wirft, sehen wir lieber nicht, weil das zu nahe an unserer eigenen Familiengeschichte sein könnte.

Karl Schwarzenberg sagte am Montag bei der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Mauthausen: "Wie vor 90 Jahren ziehen verschiedenste Hassprediger durch Europa." Inwieweit kann die aktuelle soziale Lage mit jener vor 90 Jahren verglichen werden und wie hoch ist die Gefahr, dass sich die Stimmung dreht und die Hassprediger die Oberhand gewinnen?

Das dreht sich bereits. Der Unterschied ist nur der, dass die Situation heute anders ist als damals. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine große Empfänglichkeit für eine radikalisierte Politik des Umsturzes. Das gibt es heute nicht. Wir haben eine relativ lange Phase der stabilen demokratischen Verhältnisse hinter uns, der Großteil der Europäer weiß das zu schätzen. Ich sehe aber eine Zunahme von rassistischen Motiven, etwa durch eine Ethnisierung der Armut in Osteuropa.

Inwieweit muss eine moderne Demokratie mit Veranstaltungen wie dem "Totengedenken" oder auch dem "Akademiker"-Ball in der Hofburg umgehen können?

Ein demokratischer Staat muss das aushalten. Der WKR-Ball wird jetzt von der FPÖ veranstaltet - natürlich kann man einer demokratisch legitimierten Partei nicht verbieten, einen Ball zu machen. Auch das muss ein Rechtsstaat aushalten. Wenn sie sich dazu bekannte Größen der rechtsextremen Politik aus Europa einladen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn es dagegen Proteste gibt.

Muss es aber in der Hofburg sein?

Das müssen sich die Besitzer der Hofburg überlegen. Auf Englisch heißt es: "You can’t have the cake and eat it." Wir haben die Freiheit, dass das nicht von Staats wegen geregelt ist, und ich glaube nicht, dass wir wegen des WKR-Balls dazu übergehen sollten. Das ist es nicht wert, hier dürfen wir uns nicht ins Bein schießen.

Immer wieder werden Stimmen laut, die meinen, es wurde schon ausreichend über das Dritte Reich geredet und man möge die Geschichte doch endlich ruhen lassen. Was halten Sie solchen Meinungen entgegen?

Auch der Holocaust wurde nicht von irgendwelchen Monstern verübt, das waren Menschen wie du und ich. Nachher hat man vom Zivilisationsbruch und vom europäischen Sonderweg gesprochen. Aber die Decke der Zivilisation, die uns daran hindert, uns gegenseitig umzubringen, ist relativ dünn. Es ist wichtig, dass man sich dessen bewusst ist, dass es unter bestimmten sozialen Umständen jederzeit wieder passieren kann. Wenn es ums Existenzielle geht, sind Menschen sehr schnell bereit, zu Bestien zu werden. Und im Anlassfall toleriert man gewisse Dinge, immer in der Hoffnung, es würde nicht ärger werden. Es gibt eine eindeutige Rechtsverletzung in der Ukraine durch Russland - und schon wieder versuchen viele in Europa, das kleinzureden. Zu glauben, dass wir zwischen 1938 und 1945 alle im Widerstand gewesen wären, ist eine Illusion. Damit man es nicht ausprobieren muss, muss man dafür sorgen, dass die demokratischen Standards eingehalten werden und dass die Erinnerung an die Leute bestehen bleibt, die ihr Leben dafür gegeben haben.

Ihr eigener Forschungsschwerpunkt ist die Verfolgung von Roma und Sinti - wird dieses Thema in Zukunft eine größere Rolle in der Arbeit des DÖW spielen?

Das Thema war hier schon immer beheimatet, aber ich werde es sicher wieder verstärkt zurückbringen, vor allem, weil es hier noch viel zu tun gibt. Ein zweiter Schwerpunkt wird auf privaten Filmdokumenten liegen.

Sehen Sie das Dokumentationsarchiv auch als Think Tank?

Ja. Ich sehe das DÖW als Ideengeber, aber auch als Berater für die Politik. Politik zu machen, ist die Aufgabe von jemand anderem. Das DÖW kann aber durchaus auch Vordenker sein und proaktiv Themen in die Öffentlichkeit bringen. Wenn es uns gelingt, uns als Drehscheibe und Rechtsextremismus-Ticker zu etablieren, dann wäre das ein ziemlicher Erfolg. Außerdem würde ich gerne Apps zu zeithistorischen Spaziergängen durch Wien anbieten.

Wird die Arbeit des DÖW jemals abgeschlossen sein?

Nie. Denn auch die Geschichtsschreibung ist nie beendet, weil es nie eine endgültige Version gibt und sich jede Zeit ihre Geschichte neu schreibt.

Zur Person

Gerhard Baumgartner

Mit 1. Mai trat Baumgartner die Nachfolge von Brigitte Bailer an der Spitze des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands (DÖW) an. Der 1957 in Oberwart geborene Historiker arbeitete auch als Lehrer, Journalist und Ausstellungsmacher. Sein wichtigster Forschungsschwerpunkt ist die Aufarbeitung der Geschichte der Roma und Sinti.