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Mehr als ein Stück Haut

Von Fabian Kretschmer

Politik

Für die einen ist die Beschneidung an Kindern Körperverletzung, für die anderen ein Akt, ihre Religion frei auszuüben.


Wien. Ein bisschen staune er immer noch, sagt Matthias Franz bei seiner Buchvorstellung in Wien, wie "völlig naiv" er vor 15 Jahren in dieses Thema hineingeraten ist. Ein Thema, für das der 59-Jährige mittlerweile Hass-E-Mails und persönliche Beleidigungen in Kauf nimmt, gar öffentlich als Antisemit diffamiert wird.

Doch der Psychoanalytiker möchte nicht länger stumm mitansehen, wie tagtäglich das körperliche Wohl kleiner Buben riskiert wird. "Die Beschneidung von Jungen - ein trauriges Vermächtnis", lautet der Titel seines Buches, welches Beiträge von 14 Beschneidungskritikern aus dem deutschsprachigen Raum vereint.

Wachgerüttelt wurde Franz durch einen 30-jährigen Patienten, der von Depressionen, fürchterlichen Angst-Zuständen und seiner vergeblichen Mühe, eine sexuell erfüllte Beziehung mit seiner Partnerin zu erlangen, berichtete. Als Leiter der Düsseldorfer Universitätsklinik für Psychotherapie hat Franz zwar tagtäglich mit solchen Leidensgeschichten zu tun, doch diesmal wusste er sich keinen rechten Reim auf deren Ursachen zu machen.

"Man wird vergewaltigt und kann es nicht vergessen"

Bis der Patient plötzlich, unter Schweißperlen und mit zitternder Stimme, zu erzählen beginnt: Kurz vor seiner Einschulung sei er unter geheimnisvollen Andeutungen zu einem weit entfernten Krankenhaus gebracht worden, wo mehrere Männer auf ihn zukamen, seine Hose hinunterzogen und mit einem Messer an seinem Glied ansetzten. Todesangst habe er damals empfunden, wollte sich nur mehr aus den Griffen der Männer herauswinden. "Man wird vergewaltigt und kann es nicht vergessen", sagte der offensichtlich Hochtraumatisierte im Rückblick auf das Erlebte. Seit seiner Pubertät habe er Erektionsstörungen und er klagt über eine geringe Empfindsamkeit.

In der öffentlichen Wahrnehmung galt die Zirkumzision lange Zeit als harmloser Eingriff, der aus religiöser Tradition erfolgt oder für die Intimhygiene dienlich ist. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind rund 30 Prozent der Männer weltweit beschnitten.

Körperliche Unversehrtheit versus Religionsfreiheit

Erst vor zwei Jahren begann im deutschsprachigen Raum eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema, als nämlich der Kölner Landesgerichtshof erstmals in einem Urteil die rituelle, medizinisch nicht begründete Beschneidung von Burschen als Straftat wertete. Vorausgegangen war der Fall eines vierjährigen muslimischen Kindes, das ins Spital eingeliefert werden musste, weil dessen Beschneidung heftige Nachblutungen zur Folge hatte.

Auch in Österreich stritt man darüber, welches Recht höher stehen sollte: die körperliche Unversehrtheit des Kindes oder die Religionsfreiheit der Eltern - schließlich ist die islamische als auch jüdische Identität sehr stark mit der Beschneidung seiner männlichen Mitglieder verknüpft. Ariel Muzicant, Präsident der israelischen Kultusgemeinde, verglich ein mögliches Beschneidungsverbot mit der "Vernichtung des jüdischen Volkes" mit geistigen Mitteln.

Der österreichische Gesundheitsminister Alois Stöger hielt die Diskussion von vornherein für "aufgesetzt", bezeichnete es als "ein aus Deutschland übernommenes Thema, das nicht wichtig ist".

Doch so eindeutig ist die Lage keinesfalls: Laut österreichischem Strafgesetzbuch darf nämlich in eine Verstümmelung oder sonstige Verletzung der Genitalien, die geeignet ist, eine nachhaltige Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens herbeizuführen, nicht einmal von Erwachsenen eingewilligt werden.

Genau das aber impliziert indirekt eine aktuelle Studie aus Dänemark, bei der erstmalig auch die Langzeitfolgen ritueller Beschneidungen untersucht wurden. Demnach leiden beschnittene Männer bis zu dreimal öfter an Orgasmusstörungen, zudem komme es bei rund fünf Prozent zu Komplikationen im Heilungsprozess - und dabei handelt es sich nur um jene Eingriffe, die unter chirurgisch einwandfreien Bedingungen durchgeführt wurden.

Dass in der Debatte um ein Beschneidungsverbot bislang die sexuelle Funktion der Vorhaut weitgehend ignoriert wurde, ist verwunderlich, schließlich wird bei der Zirkumzision hochsensibles Gewebe entfernt, das bei einem erwachsenen Mann etwa die Größe einer Scheckkarte besitzt. Im 19. Jahrhundert wurde die Beschneidung ja genau aus diesem Grund auch eingeführt: um die sexuelle Empfindsamkeit zu mindern und Masturbation zu unterbinden.

Beschneidung ist ein Millionen-Geschäft

Seit drei Jahrzehnten sind die Beschneidungsraten in den Vereinigten Staaten rückläufig: Waren in den Achtzigern noch vier Fünfteln aller Männer beschnitten, sind es heute nur mehr gut die Hälfte. Die amerikanische Vereinigung der Kinderärzte (AAP) argumentiert bis heute, dass der gesundheitliche Nutzen einer Beschneidung dessen Risiken überwiegen würde. Bei europäischen Kollegen löst die Haltung der AAP weitgehend Empörung aus, gar finanzielle Voreingenommenheit wurde den Amerikanern unterstellt. Jährlich erwirtschaften Kinderärzte in den USA mit Beschneidungen rund 1,25 Milliarden Umsatz. Zudem gibt es einen regen Handel mit Vorhäuten, die zur Herstellung von kosmetischen Kollagenprodukten dienen.

Wissenschaftlich lässt sich nachweisen, dass Harnwegsinfekte - als einzige bedeutsame Krankheit im Kindesalter - in ihrer Häufigkeit durch Beschneidungen reduziert werden können. Statistisch wären jedoch mehr als 100 Eingriffe notwendig, um einen Infekt zu verhindern.

Abseits der körperlichen Folgen skizziert Matthias Franz in seinem Buch auch die psychischen Konsequenzen, die Beschneidungen vor allen in islamischen Kreisen haben können. Diese werden nämlich meist im frühen Schulalter vorgenommen - also genau zu der Zeit, in der sich die sexuelle Identität von Heranwachsenden herausbildet. Die spätere Sexualmoral als auch der Drang, die weibliche Sexualität kontrollieren zu wollen, könne durchaus mit den während der Beschneidung empfundenen Urängsten zusammenhängen.

Warten bis zur Mündigkeit

Wichtig ist dem Psychotherapeuten zu betonen, dass auch innerhalb der religiösen Gemeinschaften die Beschneidung nicht unumstritten ist. Im Islam handelt es sich streng genommen um keine Verpflichtung, sondern um eine Sunna, also um eine religiöse Empfehlung. Die Beschneidung könne also auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, sobald die Mündigkeit des Betroffenen gewährleistet ist.

Auch zwei der bedeutendsten Wiener Juden ließen ihre Söhne im Übrigen nicht beschneiden: Sigmund Freud und Theodor Herzl, geistiger Vater des Staates Israel.