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Bevor etwas passiert

Von Simon Rosner

Politik

Neue Technologien schaffen immer mehr Möglichkeiten für Vorsorgeuntersuchungen. | Doch wie gehen Politik, Krankenkassen und Gesellschaft mit diesen neuen Angeboten um?


Wien. Kein Krebs tritt in Österreich so häufig auf wie das Brustkarzinom. Und das, obwohl fast ausschließlich Frauen daran erkranken, mehr als 5000 sind es jährlich, und rund 1500 sterben daran. Brustkrebs ist damit für drei bis vier Prozent der Todesfälle bei Frauen verantwortlich, so steht es in den Statistiken.

Seit Jänner werden in Österreich nun deshalb monatlich 63.000 Briefe an Frauen im Alter zwischen 45 und 69 Jahren verschickt. Der Brief ist eine Einladung zur Mammografie, der röntgenologischen Untersuchung der Brust, die jetzt jede gesunde Frau alle zwei Jahre vornehmen lassen kann. Und dieser Brief soll etwa 300 Frauen jährlich das Leben retten, statistisch gesehen.

Das Gesundheitsministerium rechnet mit dieser Reduktion der Mortalität, wenn statt bisher 40 künftig 70 Prozent der Frauen regelmäßig ihre Brust untersuchen lassen. Es gibt Studien, die weit weniger Optimismus versprühen beziehungsweise das Screening-Programm gar nicht empfehlen, doch selbst die Annahme des Ministeriums unterliegt einer ganz wesentlichen Voraussetzung: Es kann nur funktionieren, wenn eben sehr viele Frauen diese Einladung annehmen. Daher stellt sich die Frage: Was, wenn nicht?

Dazu ist es sinnvoll, sich zu überlegen, warum der Staat überhaupt ein derartiges Screening-Programm organisiert, das zunächst einmal aufwendig und teuer ist. Und das wohlgemerkt in Zeiten knapper werdender Budgets und steigender Gesundheitsausgaben. "Staaten denken nicht nur volkswirtschaftlich, in den USA zwar mehr als in Kontinentaleuropa, aber es gibt hier zwei Argumentationsstränge", sagt Barbara Prainsack, Professorin für Sozialwissenschaften und Gesundheit am Londoner King’s College. "Der eine ist ein ökonomischer, dass ein Screening in vielen Fällen sinnvoll ist, weil es sonst langfristig zu höheren Kosten führt, wenn später diagnostiziert und kostenintensiv behandelt werden muss. Das zweite Argument ist aber, dass Staaten nach den absoluten Monarchien die Aufgabe haben, ihre Bevölkerung gesund zu halten."

Betreuung für alle

Hinter diesem Argument könnte man natürlich ebenso ökonomische Motive vermuten, denn nur, wer gesund ist, kann auch arbeiten und der Produktivität dienen. "So ist es aber eigentlich in keinem Staat der Welt in Reinkultur", sagt Prainsack, und schon gar nicht sei das in Österreich der Fall. Auch Pensionisten erhalten hier die übliche medizinische Betreuung, und das kann auch bedeuten, dass 90-Jährige nach einem Sturz auf Rehabilitation geschickt werden. "In den meisten Staaten ist das ein nicht hinterfragbares Ziel, die Bevölkerung gesund zu halten. Und glücklich. Man könnte ja sonst auch in Wien alle Parks verkaufen, aber man tut es nicht, weil eben nicht rein ökonomisch gedacht wird."

Sollten sich also wenige Frauen an dem Screening-Programm beteiligen, könnte das Ministerium werben, die Ärztekammer aufklären, vermutlich wird nicht allzu viel passieren. Es ist nicht zu erwarten, dass aus der Einladung eine Art Befehl wird.

Doch wie reagiert die Gesellschaft, wenn sich Frauen dem Programm entziehen? Das ist eine zweite, durchaus spannende Frage. Denn in dem Moment, in dem der Einladungsbrief im Postkasten liegt, müssen die Angeschriebenen eine Entscheidung treffen. Vielleicht wollen sie ganz einfach nicht untersucht werden oder haben Angst davor. Doch während eine Mammografie früher einfach kein Thema für sie war, müssen diese Frauen nun eine Einladung ausschlagen. Das mag zwar nur ein kleiner Unterschied sein, aber es ist ein wesentlicher.

"Es gibt heute mehr Technologien, mehr Tests, mehr Möglichkeiten, Krankheiten zu diagnostizieren. Und das bedingt einen Trend dahin, dass man diese Möglichkeiten auch nutzt", sagt Prainsack. So wurde etwa auch im Zuge der Einführung des Mammografie-Screenings bereits der Ruf nach einer ähnlich organisierten, regelmäßigen Darmspiegelung laut. Und die Medizin ist längst schon viel weiter. Das Schlagwort heißt Gentest.

Gentests als nächste Stufe?

Mit der Analyse des Erbguts lassen sich heute eine ganze Reihe an späteren Erkrankungen vorhersagen, von Parkinson bis Rheuma, beziehungsweise lässt sich die Wahrscheinlichkeit definieren - hier ist wieder die Statistik am Wort -, eine bestimmte Krankheit zu entwickeln. Irgendwann. Deshalb hat der Fall Angelina Jolie nicht nur in Klatschblättern für Aufsehen gesorgt, sondern auch in der Wissenschaft. Die Schauspielerin hatte sich beide Brüste vorsorglich amputieren lassen, da sie ein Gen in sich trägt, das ihr eine sehr hohe Disposition zu Brustkrebs zumisst.

Es war ihre ganz persönliche Entscheidung, so zu handeln, doch angestoßen dadurch wurde in den USA darüber diskutiert, ob es spezielle oder gar obligatorische Screenings braucht, um schon bei Neugeborenen seltene Krankheiten zu erkennen, auch wenn diese noch nicht ausgebrochen sind und vielleicht auch nie ausbrechen werden.

Gentests sind noch nicht im Mainstream angekommen, dafür gibt es zahlreiche andere Untersuchungen, die längst so selbstverständlich sind, dass eine Nicht-Teilnahme im besten Fall als Protest, im schlechtesten als dumme Sorglosigkeit wahrgenommen wird. Wer drei Jahre nicht beim Zahnarzt war und Schmerzen hat, ist schnell einmal selbst schuld, obwohl es überhaupt nicht ungewöhnlich ist, wenn ein Zahnarzt bei regelmäßigen Kontrollen in diesem Zeitraum keinen Anlass zum Bohren findet.

Ein anderes Beispiel ist die Pränataldiagnostik, die heute weit mehr als nur den Ultraschall bietet. Die Einführung des Mutter-Kind-Passes 1974 und einer klar definierten Untersuchungskette hat die Säuglingssterblichkeit in Österreich deutlich reduziert. Auch das ist statistisch belegbar. Heute ist der Bezug des vollen Kinderbetreuungsgeldes von der Teilnahme an den Untersuchungen abhängig. Die Nackenfaltenmessung ist nicht Teil dieses Screenings, sie wird aber angeboten, und allein dieses Angebot bedingt, dass Eltern eine Entscheidung darüber treffen müssen. Je verbreiteter eine Vorsorgeuntersuchung aber ist, desto schwieriger ist es, sich gegen sie zu entscheiden. Denn die Gesellschaft tendiert dazu, die Verantwortung jenen zu übertragen, deren Verhalten bei diesen Entscheidungen von der Norm abweicht.

Deshalb ist die Frage auch im Zusammenhang mit dem Mammografie-Screening wichtig, wie die Gesellschaft darauf reagiert, wie auch andere Frauen reagieren, wenn sich manche aus dem Programm selbst herausnehmen. Es ist eine wesentliche Problemstellung dieses Screenings. Einerseits kann es nur dann erfolgreich sein, wenn möglichst viele mitmachen, anderseits steigt mit wachsender Teilnehmerinnenzahl der Druck auf jene, die, warum auch immer, keine Mammografie vornehmen lassen wollen. Und dabei ist die Gesundheit ein sehr privater, sensibler Bereich.

"Die Schwierigkeit ist: Bis zu welchem Grad bevormundet man Frauen damit, wo überlässt man ihnen die Entscheidung? Und wie angemessen ist es überhaupt, Gesundsein zu verordnen?", fragt die Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher. Sie ortet generell einen Wandel von "cure zur care", wie sie sagt, also vom Kurieren zur Vorsorge. "Und das fängt zu Beginn des Lebens an."

Anreize für gesundes Leben

In Österreich bieten die Kassen Vorsorgeuntersuchungen seit den 1970er Jahren an, was nicht nur, aber auch ökonomische Gründe hat. Die SVA, die Versicherung für Selbständige, bietet seit einiger Zeit zusätzlich noch Anreize an, gesund zu leben. So kann man etwa vereinbaren, mit dem Rauchen aufzuhören oder bei Übergewicht abzunehmen, dafür halbiert die SVA dann den Selbstbehalt.

Diese Anreize sind mitunter umstritten. Wie es die SVA handhabt, hält es Prainsack, die auch Mitglied der Bioethikkommission ist, für unproblematisch. Was anderes wäre es, wenn sich Anreize beispielsweise an Langzeitarbeitslose richten würden. Statistisch gesehen ist diese Bevölkerungsgruppe unbestritten ungesünder, doch es könnte eine öffentliche Stimmung gegen jene evozieren, die trotz finanzieller Engpässe diese Anreize nicht annehmen. "Das wird zu wenig berücksichtigt", sagt Barbara Prainsack.

Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass der Schritt zu negativen Anreizen nicht mehr weit ist. Es gibt bereits Diskussionen, ob Menschen, die ungesund leben und daher auch ein höheres Erkrankungsrisiko haben, höhere Beiträge zahlen sollten, vor allem in den Niederlanden. Doch auch in Österreich hat eine OGM-Umfrage vor Jahren eine hohe Bereitschaft der Gesellschaft ermittelt, von Risikogruppen, etwa auch Extremsportlern, höhere Beiträge zu verlangen. Sind Menschen, die an Screening-Programmen und bestimmten Vorsorgeuntersuchungen nicht teilnehmen, auch Risikogruppen?

Neues System des Screenings

Experten sehen vorerst keine Gefahr, dass der gesellschaftliche Druck derart zunimmt, dass die Solidarität im Gesundheitssystem verschwindet, die ist in Österreich nach wie vor stark ausgeprägt. Sie wird aber dann auf eine Belastungsprobe gestellt, wenn die Krankenkassen wegen ihre Finanzlage Leistungen kürzen müssen. In Deutschland ist das längst Realität.

Für die meisten Frauen wird das Mammografie-Programm nur eine kleine Änderung bedeuten, sie sind bisher regelmäßig zur Untersuchung gegangen, andere werden auch weiterhin keine Gedanken daran verschwenden. Und es ist auch nicht das erste Screening-Programm, das in Österreich im Einsatz ist, auch wenn es durch die Einladungen, die gleichzeitig auch Zuweisung sind, ein neues System darstellt und die Vertrauensärzte nicht mehr einbindet. Zwei Punkte scheinen aber sicher: Die Forschung wird neue Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten entdecken. Und es wird sicher nicht das letzte Screening-Programm gewesen sein.