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Bildungsunbill

Von Katharina Schmidt

Politik
Ganz so frontal geht es in Österreichs Schulen nicht zu - aber fast.
© Christie’s Images/Corbis

Das österreichische Bildungssystem ist per se ungerecht - Bestandsaufnahme und Blick darauf, wie es sein könnte.


Wien. Sie sind in der mindestens dritten Generation Österreicher, Ihr Name erinnert nicht einmal an Ihre tschechischen Urstrumpf-Vorfahren, Sie sprechen perfektes Döblinger Hochdeutsch, wo Sie am besten auch wohnen, Ihre Eltern sind Akademiker und verdienen angemessen? Herzlichen Glückwunsch, dann haben Sie und Ihre Kinder eine gute Chance auf eine halbwegs annehmbare Ausbildung und später einen Job, der Sie auch ernähren kann.

Was auf den ersten Blick fürchterlich polemisch klingt, ist durch die nackten Zahlen der Statistik beweisbar: Das österreichische Bildungssystem ist per se diskriminierend und betoniert die sozialen Unterschiede ein, statt sie auszugleichen. Es beginnt schon einmal damit, dass Österreich eines jener Länder in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist, das am meisten Geld pro Schüler ausgibt. In der Studie "Bildung auf einen Blick" kommt die OECD 2013 auf knapp 8900 US-Dollar (rund 6500 Euro) pro Kind, die die öffentliche Hand hierzulande im Elementarbereich ausgibt. Im OECD-Schnitt sind es hingegen nur etwas weniger als 6800 US-Dollar (knapp 4900 Euro). Ausgegeben wird das Geld in erster Linie für höhere Lehrergehälter und für kleinere Klassen als im OECD-Mittel.

Zumindest Letzteres klingt auf den ersten Blick ganz gut, allerdings lohnt auch hier ein Blick aufs Detail: Die durchschnittliche Klassengröße hat sich zwischen 2000 und 2011 etwa im Sekundarbereich I von 23,9 auf 21,3 Schüler verringert. Die Bildungsforscher sind sich jedoch darin einig, dass kleinere Klassen eher zur Zufriedenheit der Lehrer beitragen als zur Qualität des Unterrichts. Unterstrichen wird dieser Befund noch durch die nie besonders berauschenden Ergebnisse der österreichischen Schüler bei Bildungsvergleichsstudien wie Pisa, und auch die Rate von Personen mit Hochschulabschlüssen ist in Österreich unterdurchschnittlich.

Sozialer Hintergrund wichtiger als Migrationshintergrund

Noch dramatischer wird die Situation mit Blick auf bestimmte Schülergruppen: Der soziale Hintergrund eines Schülers ist maßgeblich mitbestimmend für sein Fortkommen in der Schule. Im aktuellsten Nationalen Bildungsbericht aus 2012 hat das Bundesinstitut für Bildungsforschung (Bifie) errechnet, dass der sozioökonomische Status der Eltern - auch im Vergleich zu anderen Ländern - massiven Einfluss auf die Lesekompetenzen von Schülern hat. Eine große Rolle spielt auch die Bildung der Eltern: Am Ende der Volksschule liegen Kinder von Eltern mit höchstens Pflichtschulabschluss bei der Leseentwicklung mehr als ein Jahr hinter Kindern von gut ausgebildeten Eltern. Selbst bei gleichen schulischen Leistungen wechseln diese Kinder seltener in die AHS-Unterstufe.

Kinder mit Migrationshintergrund haben dabei fast schon von Beginn an weniger Chancen als ihre autochthonen Altersgenossen. So lag der Anteil an Schülern mit nicht-deutscher Umgangssprache in Sonderschulen im Schuljahr 2011/2012 bei nahezu 30 Prozent. In Allgemeinbildende Höhere Schulen "verirren" sich hingegen nur 15 Prozent Kinder mit nicht-deutscher Umgangssprache. Ebenso von ausgeprägter Chancenungleichheit zeugt der Anteil der "Drop-outs", also Schüler, die nur ihre Pflichtschulzeit absitzen und das System dann ohne Abschluss und damit ohne reelle Chance auf einen Job verlassen. Bei Kindern mit nicht-deutscher Umgangssprache ist er mit 13 Prozent mehr als drei Mal so hoch wie bei deutschsprachigen.

Ein frühes sogenanntes "Erstselektionsalter" - also jenes Alter, in dem Kinder eine Schulwahl treffen müssen - unterstreicht die sozialen Unterschiede. Die Lösung für dieses Problem hätte das Prestigeprojekt der ehemaligen Unterrichtsministerin Claudia Schmied, die Neue Mittelschule (NMS), liefern sollen. Geplant war eine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen, die aus der AHS-Unterstufe und der bisherigen Hauptschule hervorgehen sollte. Offenes Lernen, neue Methoden, Team Teaching (also zwei Lehrer pro Klasse) in manchen Klassen - so sah zumindest die Utopie auf dem Papier aus. Für die Modellversuche gab es 1000 Euro Zusatzbudget pro Schüler und Jahr (wir erinnern uns: zusätzlich zu den ohnehin schon enorm hohen Kosten).

NMS ohne Evaluierung ins Regelschulwesen übernommen

Geplant war eigentlich, eine begleitende Evaluierung der Modellversuche zur NMS durchzuführen und auf deren Basis Ende 2012 zu entscheiden, ob die Neue Mittelschule ins Regelschulwesen übernommen werden kann. Doch es kam anders: Bereits im Dezember 2012 segnete der Ministerrat ohne Evaluierung ab, dass alle Hauptschulen bis 2018/19 in Neue Mittelschulen umgewandelt sein sollen - den ursprünglichen Plan der gemeinsamen Schule musste Schmied ad acta legen. Von Anfang an hatten sich kaum AHS-Unterstufen für den Schulversuch interessiert, der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund in den NMS ähnelt dem in den Hauptschulen.

Bildungsbericht: Keine soziale Durchmischung

Und: "Die starke AHS-Präferenz der Kinder von Eltern mit hoher Bildung hat sich durch die Einführung der NMS in der Anfangsphase nicht geändert, was einer sozialen Durchmischung der Schülerschaft entgegensteht", heißt es im Nationalen Bildungsbericht.

Wenn nicht die NMS, was aber dann? Ein weiteres heißes Eisen der Bildungspolitik in letzter Zeit war die Ganztagsschule. Diese ist nämlich eigentlich auch eine sehr gute Idee, wie alle Bildungsforscher übereinstimmend feststellen. Denn durch halbtägige Schulformen wird nicht nur die Berufstätigkeit der Eltern und damit das Familieneinkommen beschränkt, sondern werden wiederum soziale Unterschiede einzementiert.

Doch auch die Ganztagsschule ist in Österreich nicht das, wonach es aussieht: Zwar gibt es derzeit rund 130.000 Ganztagsschulplätze, diese sind aber nur zu einem geringen Anteil "echte" Ganztagsangebote in verschränkter Form. Im Schuljahr 2012/13 haben in ganz Österreich nur 1,8 Prozent der Schüler diese Form des Unterrichts genossen, bei der sich Lernphasen und Pausen den ganzen Tag über abwechseln. Der verbreitete "Ganztagsschultyp" ist eine integrierte Hortbetreuung: Der Unterricht findet am Vormittag statt - manche der Kinder werden eben am Nachmittag beaufsichtigt. Die Migrationsforscherin Gudrun Biffl von der Donau Uni Krems nennt diese Form der Ganztagsschule "bizarr": "Die verschränkte Form ist die Idee dahinter, alles andere ist Quatsch."

Die echte Ganztagsschule scheitert derzeit an unterschiedlichen Enden, das größte Problem ist aber wohl die räumliche Ausstattung: Ganztagsschulen brauchen neben einer Kantine und mehr Platz für das Lehrpersonal auch Rückzugsorte und Sportmöglichkeiten. Für den Ausbau und die Anstellung von Freizeitpädagogen stellte der Bund zwischen 2011 und 2013 jeweils 80 Millionen Euro jährlich an Anschubfinanzierung zur Verfügung, zwischen 2014 und 2018 sollten es 160 Millionen sein. Weil die Gemeinden aber oft selbst nicht über die Mittel verfügen, das Geld aufzustocken, sind zwischen 2011 und 2013 insgesamt 50 Millionen Euro nicht abgeholt worden - Geld, das Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek in den kommenden Jahren von den geplanten 160 Millionen abzieht und zur Budgetsanierung verwendet.

Mehr Geld im System ist nicht die einzige Notwendigkeit

Wie kann bei all diesen Baustellen aber dennoch die Chancengleichheit erhöht werden? Für eine Maßnahme bräuchte man zunächst einmal gar keine zusätzlichen Mittel, sagt Biffl: "Es ist mit mehr Geld im System nicht getan." Zunächst einmal müssten die Unterstützungsstrukturen in der Schule neu organisiert werden. Möglichkeiten wären da zum Beispiel Lernen im Team und Mentoringprogramme, in deren Rahmen gute Schüler schlechteren helfen. Dazu braucht es nicht einmal unbedingt einen zweiten Lehrer in der Klasse - allerdings müssten die Lehrer besser ausgebildet sein. Biffl plädiert in diesem Zusammenhang für eine Weiterbildungspflicht für Lehrkräfte. Gleichzeitig müssten aber ausreichend Räumlichkeiten für die Lehrer in der Schule und Computer zur Verfügung stehen.

Eine international bereits erprobte andere Möglichkeit, mehr Chancengleichheit zu erreichen, hat der Linzer Soziologe Johann Bacher auf Österreich umgelegt: die Mittelvergabe an Schulen nach bestimmten Indikatoren. Mehr Mittel könnten etwa Schulen bekommen, die einen großen Anteil an Kindern haben, deren Eltern einen niedrigen Bildungsstand oder sozioökonomischen Status haben. Über den Einsatz der Mittel etwa für mehr muttersprachlichen Unterricht könnte - entlang bestimmter Kriterien - der Schulgemeinschaftsausschuss entscheiden.

Ein anderer Ansatz, der in Österreich noch kaum interessant ist, ist das Konzept der "Schulen des 21. Jahrhunderts". In den USA gibt es 1300 solcher Schulen nach einem ganzheitlichen Ansatz: Schon ab der Geburt der Kinder kümmern sich Vertreter der Schule um die Eltern - in allen sozialen, gesundheitlichen, sprachlichen oder erzieherischen Fragen. Die Kinder werden ganztägig betreut, für Schulkinder gibt es je nach Bedarf auch ein Programm vor und nach der Schule sowie in den Ferien. Auch das Gesundheitssystem ist an die Schule angedockt. In Europa gibt es ähnliche Projekte wie Quims (Qualität in multikulturellen Schulen) in Zürich.

An Best-Practice-Beispielen mangelt es also nicht. Aber um das in Österreich in der Verfassung verankerte Recht auf Chancengleichheit in der Bildung mit Leben zu erfüllen, braucht es erst einmal ein politisches Bekenntnis dazu. Ansonsten wird das Kind aus Döbling immer dem aus Favoriten den Rang ablaufen.