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Im Land der ausgewanderten Eltern

Von Lukas Hiller

Politik

Morgengebet, militärischer Turnunterricht, aber zumindest werden keine Kalaschnikows mehr geladen: Besuch einer Volksschule in der Republik Moldau.


"Bună ziua!" rufen 26 Kinder der vierten Klasse. Sie sind aufgestanden, um die eintretende Lehrerin zu begrüßen. Während diese zum Lehrerpult geht, falten die Schulkinder ihre Hände vor der Brust und richten ihren Blick auf ein Abbild der Heiligen Maria, das über der Wandtafel hängt, und beginnen zu beten. Anschließend setzen sich die Kinder, immer ein Bub neben einem Mädchen, zu zweit an einen Schultisch. Das führt zu ausgeglichenerem Unterricht, erklärt mir die Lehrerin Eugenia Iacob: Mädchen und Buben sollen einander ergänzen und zu einem besseren Lernklima beitragen.

Geschichtsunterricht in einer Volksschule in Costești, einem Dorf etwa 15 Kilometer von der moldauischen Hauptstadt Chisinau entfernt. Die Lehrerin fordert die Schüler auf, einen Text im Geschichtsbuch zu lesen. Sie haben dafür etwa fünf Minuten Zeit. Anschließend werden drei Kinder nach vorne geholt und tragen das Gelesene nacheinander auswendig der Klasse vor. Die Viertklässler sind sehr bemüht und betonen gewisse Sätze, als würden sie ein Gedicht vortragen.

Nach dem Kurzvortrag holen sie ihre Schulterminkalender und gehen zur Lehrerin. Diese überlegt kurz und schreibt kommentarlos eine Schulnote hinein. Transparente Beurteilungskriterien gibt es nicht. Es ist eine Rückmeldung an die Eltern, ob ihr Kind in der Schule gut mitmache, sagt die Lehrerin. Auch schriftliche Tests werden zur Benotung herangezogen. Diese bekommen die Schulkinder korrigiert wieder zurück, und von der Lehrperson wird vor der ganzen Klasse vorgelesen, wer welche Note hat. So wissen die Lernenden, wer welche Note in der Schule hat.

Zu Sowjet-Zeiten wurde geübt, wie man Kalaschnikows lädt
Immer im Mai gibt es ein Jahresexamen: Die Viertklässler wurden heuer in den Fächern Rumänisch, Mathematik und Sport geprüft. Sportliches Hauptaugenmerk liegt auf Leichtathletik – und es geht einigermaßen militärisch zu: im Sportunterricht wird in einer Kolonne direkt vom Schulpult im Klassenzimmer in den Schulhof im Gleichschritt herausmarschiert. Im Schulhof angekommen wird durchnummeriert. Anschließend verkündet die erste Person der Lehrperson, der Sportunterricht könne nun beginnen. Die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung und die Schulkinder springen auf dem Schulhof im Kreis und bewegen sich zu den Anweisungen der Lehrperson. Während der Sowjet-Zeit sollen die Schulkinder im Sportunterricht sogar geübt haben, wie Kalaschnikows geladen werden.

Neben den üblichen Fächern wie Mathematik, Rumänisch, Naturwissenschaften, Musik, Sport und Kunst  gibt es auch Fächer wie Religion und Ethik & Moral. Für den Religionsunterricht kommt der Dorfdiakon ins Schulzimmer und lehrt den Schülern den orthodoxen Glauben. Im Fach "Ethik & Moral" lernen die Schulkinder unter anderem die Qualitäten eines wahren Menschen und die Werte der Nation kennen, so wird das Fach im Lehrmittel beschrieben. Die Landessprache Rumänisch wird in allen Schulstufen unterrichtet, die erste Fremdsprache Englisch ab der dritten Klasse. Russisch folgt als zweite Fremdsprache in der fünften Klasse. Bis vor kurzem war auch "Schach" Teil des Stundenplans, um das logische und mathematische Denken der Schulkinder zu fördern.

Viele Eltern leben im Ausland
Von den 26 Schulkindern der vierten Klassen wohnen nur bei elf Kindern beide Elternteile zu Hause. Bei allen anderen lebt mindestens ein Elternteil im Ausland. Sie sind ausgewandert, in der Hoffnung im Westen oder im Osten mehr Geld zu verdienen. Beliebte Länder sind Russland, Italien, Israel oder Großbritannien. Die zurückgelassenen Kinder wachsen bei ihren Großeltern oder in Waisenhäuser auf. Die Eltern sehen sie maximal wenige Male im Jahr, manche haben gar im Ausland neue Familien gegründet und den Kontakt zu den Kindern abgebrochen. Einige Familien werden dadurch auseinandergerissen, sodass selbst die Geschwister getrennt aufwachsen und keinen Kontakt untereinander haben.

Im Klassenzimmer herrscht Schichtbetrieb
In Costești gibt es drei Schulhäuser. Bis vor kurzem hießen sie Nummer 1, Nummer 2 und Nummer 3, die Bezeichnungen stammen noch aus der Sowjet-Zeit. Seit einigen Jahren wird nun das Schulhaus Nummer 1 "Olymp" genannt. Im "Olymp" gibt es zu wenig Klassenzimmer für alle Klassen, deshalb teilen sich die Klassen zu zweit ein Klassenzimmer: Die erste Klasse hat von 8 Uhr morgens bis um 13 Uhr Unterricht, die andere Klasse von 13 bis 18 Uhr.

In der neunten Klasse und in der zwölften Klasse entscheidet das Abschneiden bei den Abschlussexamen, ob die Schulkinder weiterhin die Schule besuchen dürfen und ob sie an die Universität gehen können. Wer nicht besteht, darf die Prüfung einmal wiederholen. Scheitert man nochmals, muss das Schuljahr wiederholt werden. Allerdings ist es in Moldawien verbreitet, dass man diese Resultate mit Geschenken oder sogar einem großzügigen Geldbetrag verbessern kann. Das Lehrergehalt mit Bestechung aufzubessern, ist ganz normal: Denn Lehrpersonen verdienen meist nicht genug, um im Alltag eine Familie zu versorgen.

An einem Tag feierte eine Lehrperson in der Volksschule Geburtstag, es wird gemeinsam gegessen und getrunken, auf dem üppig beladenen Tisch stehen auch Wein- und Champagnerflaschen. Während das gesamte Kollegium feiert, sitzen die Schulkinder alleine in ihren Klassenzimmern. Eine Aufsichtslehrerin kontrolliert alle Zimmer gleichzeitig. Nachdem die Festlichkeiten vorbei sind, kehren die Lehrpersonen mit etwas Alkohol im Blut wieder in ihre Klassenzimmer zurück und setzen den Unterricht fort.

Für das kommende Schuljahr sind in Moldawien zahlreiche Schulreformen angekündigt. Die Lehrerin Eugenia Iacob sagt, dass sie noch nicht genau wisse, was sich alles ändern wird.

Zum Autor:
Lukas Hiller, 26, studiert an der Pädagogischen Hochschule in Bern. Für seine Abschlussarbeit hat der angehende Pädagoge zwei Wochen lang an einer Volksschule in der Republik Moldau recherchiert.