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Der Brain Drain, der keiner ist

Von Katharina Schmidt

Politik

OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig über die Mär der steuerbaren Migration.


Thomas Liebig im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
© Cem Firat

"Wiener Zeitung": Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf die Zu- und Abwanderung aus?

Thomas Liebig: Die Arbeitsmigration aus Drittstaaten ist in der Krise europaweit nicht so stark zurückgegangen, wie man es hätte erwarten können. Vor allem in Ländern wie Spanien, Italien und Griechenland gab es einen starken Rückgang. Sehr stark hat sich demgegenüber die innereuropäische Migration angepasst. Die Migration etwa aus Rumänien in Länder wie Italien und Spanien ist zurückgegangen. Gleichzeitig gibt es einen neuen Strom in die Länder Nordeuropas - die Niederlande, Skandinavien, aber auch Österreich und Deutschland. Mehrere Effekte wie zum Beispiel das Ende der Übergangsfristen für die neuen Mitgliedstaaten haben die Wirtschaftskrise überlagert.

Wird sich der Trend fortsetzen?

Auch nach unseren aktuellsten Zahlen bleibt die innereuropäische Migration auf hohem Niveau. Das wird aber nicht in alle Ewigkeit so weitergehen, weil sehr viele Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern schon abgewandert sind, teilweise, wie aus Litauen und Rumänien, zehn Prozent der Bevölkerung und mehr. Viel hängt auch davon ab, wie sich die Lage in Südeuropa entwickelt, so scheint sich die Situation in Spanien wieder zu bessern. Die Migration aus Südeuropa ist zwar stark angestiegen, aber macht im Vergleich zu jener aus Rumänien und Polen einen geringen Anteil der Migrationsflüsse aus. Langfristig können wir erwarten, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung in Europa, die gerade auch die mittel- und osteuropäischen Länder betrifft, aus denen gegenwärtig die meisten Migranten stammen, einen Bedarf an mehr Arbeitszuwanderung aus Drittstaaten geben wird.

Die Wirtschaftskrise hat zu großen Unterschieden in den Arbeitslosenquoten in Europa geführt. Welche Effekte hat das auf die Union?

Klar ist, dass sich die Arbeitslosenquoten vor allem an den
Rändern auseinanderentwickelt haben. In einem vor kurzem veröffentlichten Arbeitspapier haben wir festgestellt, dass Europa von der Abwanderung aus den Hocharbeitslosigkeitsgebieten in Mittel- und Osteuropa in die Regionen,
in denen Arbeitskräftemangel herrscht, profitiert. Die Personenfreizügigkeit trägt zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Europa bei und schwächt die Wirkung der Krise auf den Arbeitsmarkt.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist die Abwanderung aus Krisenstaaten wie Griechenland und Spanien immer noch viel kleiner als aus Osteuropa, 2011 wanderten aus Rumänien 1,4 Prozent der Bevölkerung ab. Müssen diese Länder einen Brain Drain befürchten?

Das ist sehr unterschiedlich. Für manche Länder wie etwa Polen hatte diese Migration in einigen Regionen durchaus auch positive Effekte. Das hängt sehr stark davon ab, welche Qualifikationen die Abgewanderten haben und wie die Arbeitsmarktsituation vor Ort im Ursprungsland war. Waren die Personen zuvor arbeitslos, ergibt sich zunächst einmal eine Entlastung für den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig wirkt die Mobilität in beide Richtungen. Denn - und das ist der Vorteil der Personenfreizügigkeit gegenüber Zuwanderung aus Drittstaaten - wenn sich die Lage in den Ursprungsländern wieder verbessert, wandern die Migranten zurück, ohne Rechte im Empfangsland zu verlieren.

Sie sehen also eher eine Brain Circulation als einen Brain Drain?

Dass die Mobilität in beide Richtungen geht, hat man sehr schön am Beispiel Irlands gesehen: Dort gab es vor der Krise eine sehr starke Migration aus Polen. Als sich mit dem Ausbruch der Krise Polen gut geschlagen hatte und sich die Lage in Irland rapide verschlechterte, gab es zunächst weniger Zuwanderung der Polen nach Irland. In einer zweiten Phase kam es zur Rückwanderung der Polen aus Irland nach Polen.

Jeder zweite Migrant in Europa ist auf Personenfreizügigkeit zurückzuführen. Ist eine Steuerungsmöglichkeit damit nicht reine Illusion?

Tatsache ist, dass nur ein ganz geringer Teil der Migration direkt gesteuert werden kann. Drei Viertel der dauerhaften Migration nach Österreich kommen über die Personenfreizügigkeit. Die Arbeitsmigration aus Drittstaaten macht in Österreich wie in den meisten anderen europäischen Ländern nur einen sehr kleinen Anteil der Migration aus. Aber selbst in einem Land wie Kanada, das häufig als Vorbild angesehen wird, wird nur jeder vierte Migrant direkt vom Staat ausgewählt, in den USA sogar noch deutlich weniger.

Welchen Spielraum hat die Politik im Rahmen der Personenfreizügigkeit - etwa in Form von Anreizen?

Verschiedene Länder haben das versucht, etwa Deutschland. Dort gibt es in Bereichen, in denen Fachkräftemangel herrscht, Initiativen, Arbeitslose aus Ländern wie Spanien zu rekrutieren. Bei einer Jobzusage in Deutschland werden der Flug und ein Sprachkurs gezahlt. Aber man ist mit diesen Anreizen behutsam, da man vermeiden möchte, Fachkräfte, die in dem Land selbst gesucht werden, abzuwerben.

In Österreich stammen drei von vier Personen, die sich dauerhaft neu niederlassen, aus der EU, nur in der Schweiz ist der Anteil höher. Was macht Österreich so attraktiv für EU-Migranten?

Es ist ein ganzer Mix an Faktoren. Der gut funktionierende Arbeitsmarkt mit niedriger Arbeitslosigkeit spielt eine Rolle. Darüber hinaus ist auch die geografische und historische Nähe zu den wichtigen Ursprungsländern Mittel- und Osteuropas entscheidend. Nicht zu vergessen ist auch die Nähe zu Deutschland, das auch ein wichtiges Ursprungsland für Migration nach Österreich ist.

Österreich hat die Übergangsfristen für den Arbeitsmarktzugang für Migranten aus neuen EU-Staaten so lange wie möglich ausgenutzt. Mit Blick auf zum Beispiel Großbritannien zeigt sich aber, dass die Zuwanderer aus diesen Ländern hohe Beschäftigungsquoten haben. Wie ist das in Österreich?

Es sieht nicht ganz so gut aus wie in Großbritannien, aber die überwiegende Mehrzahl der Migranten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern in Österreich ist in Beschäftigung.

Auch in Österreich gibt es mittlerweile eine Art "Brain Drain": Hochqualifizierte wandern ab, gleichzeitig bilden wir Migranten aus, die nach dem Studium nicht bleiben wollen, weil sie keine Perspektive sehen. Sehen Sie das auch so, was könnte man verbessern?

Auch in Deutschland wurde diese Debatte geführt, weil es dort eine sehr hohe Abwanderung nach Österreich und vor allem in die Schweiz gibt. Dies wird aber nicht unbedingt als Problem gesehen, weil die Menschen im Rahmen der Mobilität häufig auch wieder zurückkommen und/oder im Ausland für deutsche Firmen arbeiten. Es ist ja auch nicht immer nur negativ, wenn jemand ins Ausland geht, das kann durchaus für das Land auch vorteilhaft sein.

Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf in der österreichischen Integrationspolitik?

Wir haben dazu vor etwas über zwei Jahren eine Studie veröffentlicht, mittlerweile ist da einiges angegangen worden, zum Beispiel im Bereich der Nutzung der Qualifikationen der Zuwanderer. Gerade von den humanitären Migranten haben viele einen Universitätsabschluss, mit dem ein österreichischer Arbeitgeber nicht viel anfangen kann. Hier ist es wichtig, über den Bereich der Anerkennung hinauszugehen und auch mehr Brückenkurse zu schaffen. Im Bereich der berufsspezifischen Sprachförderung könnte ebenfalls noch etwas mehr getan werden. Und das Thema Diskriminierung muss offensiv angegangen werden.

Nach einer aktuellen Studie sind Personen mit ausländisch klingenden Namen bei Bewerbungen benachteiligt. Was kann man da tun?

Man muss zunächst bei Arbeitgebern das Bewusstsein schaffen, dass hier ein Problem ist. In Flandern haben die Sozialpartner Diversitätsberater in die Unternehmen gebracht, damit sie direkt vor Ort mit den Arbeitgebern, aber auch den Mitarbeitern analysieren können, wie das Potenzial ausländischer Arbeitskräfte besser für die jeweilige Firma genutzt werden kann. Andere Möglichkeiten sind anonyme Lebensläufe oder Mentorenprogramme. Bei Letzteren gibt es Ansätze in Österreich, die noch ausgebaut werden können. Insgesamt hat sich in den letzten Jahren aber viel getan.

Thomas Liebig ist Senior Migration Specialist in der Abteilung für Internationale Migration der OECD in Paris. Er studierte Volkswirtschaft und Internationale Beziehungen in der Schweiz, wo er zum Thema Migration promovierte. Seit 2000 ist Liebig bei der OECD tätig, heuer war er beim Dialogforum Migration und Integration der Donau Universität in Gmunden Gastvortragender.