Zum Hauptinhalt springen

Angst vor den bärtigen Männern

Von Solmaz Khorsand

Politik
Alle 30 Minuten versucht Khefshi Qasim, ihre Familie im Nordirak am Telefon zu erreichen.
© Khorsand

Auch in Wien fürchten sich Angehörige der jesidischen Minderheit vor Übergriffen durch Anhänger der Terrormiliz IS.


Wien. Bislang hatte Riwas Angst vor Horrorfilmen. Vor allem vor denen mit Hexen. "Gruselig" ist es, wenn die Frauen mit einem einzigen Blinzeln ein Feuer entfachen können, erzählt der Neunjährige. Er rutscht nervös neben seiner Mutter auf der schwarzen Ledercoach im Wohnzimmer der kleinen Wohnung im 10. Bezirk und schaut auf den Fernseher. Es laufen die Nachrichten. Er schaut gebannt auf den Bildschirm. Heute hat er keine Angst mehr vor den Hexen. Die Wirklichkeit ist viel gruseliger. Die schwarz gekleideten Männer mit ihren langen Bärten, sie sind es, vor denen sich Riwas heute fürchtet. "Das ist Isis, die wollen uns töten, weil wir keine Muslime sind", sagt er ernst.

Riwas ist Jeside. Er gehört zu jener religiösen Minderheit innerhalb der kurdischen Community, die spätesten seit 3. August die ganze Welt kennt. Vor knapp zwei Wochen hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), vormals Isis, das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Norden des Iraks angegriffen, ihre Heiligtümer zerstört, ihre Männer enthauptet und ihre Frauen entführt - so erzählen es Augenzeugen. Tausende Menschen flohen in die baumlosen Berghänge des Sinjar-Gebirges und harrten dort Tage ohne Wasser, Lebensmittel und Medikamente aus. Die Bilder gingen um die Welt.

Als Teufelsanbeter von Fanatikern verfolgt

Riwas kennt die Geschichten. Seit Tagen sitzt er mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern vor dem Fernseher und verfolgt die Nachrichten. So wie andere Kinder in seinem Alter von ihren Schulfreunden erzählen, spricht Riwas von den Akteuren, die über das Schicksal seiner Heimat entscheiden. IS, Barack Obama, die kurdischen Kämpfer der Peschmerga und der PKK, die sogar Frauen kämpfen lassen. Das imponiert ihm. Wie von Actionhelden seiner Lieblingsserie erzählt er von ihrem Einsatz.

Seine Mutter Khefshi Mito Qasim lächelt müde. Vor zwei Jahren ist die heute 29-Jährige gemeinsam mit ihren drei Kindern aus dem Irak nach Wien geflohen und hat hier Asyl bekommen. Ihr Mann kam bereits zwei Jahre früher. Seit Tagen hat Qasim keine Ruhe. Die Bilder aus ihrer Heimat holen sie auch hier mitten in Favoriten ein. Qasim ist aufgewachsen in Sinjar. Alle 30 Minuten versucht sie, ihre Verwandten zu erreichen. Vergeblich. Seit drei Tagen hat sie von ihnen kein Lebenszeichen. Vielleicht ist nur der Handy-Akku leer, so ihre Hoffnung. 15 ihrer Verwandten sind in den vergangenen zwei Wochen bereits gestorben. Nun hofft sie, dass es ihre Eltern sicher in die kurdische Stadt Dohuk im Nordirak schaffen, wie sie es vor ein paar Tagen am Telefon angekündigt haben.

20 Jahre lang hat Khefshi Mito Qasim nahe dem Sinjar-Gebirge gelebt. Gemeinsam mit ihren Eltern und den sieben Geschwistern hat sie auf den Feldern in der Umgebung gearbeitet, hat Paprika und Tomaten geerntet. Gerne erinnert sie sich nicht an die Zeit zurück. "Es war dort nie gut", sagt sie. Keine Infrastruktur, keine Sicherheit, keine Zukunft. Und immer wieder wurden sie angegriffen.

Dafür, dass sie an die Seelenwanderung glauben. Dass sie keine Hölle kennen. Und dass sie manche für Teufelsanbeter halten. So steht im jesidischen Glauben vor allem ein Engel im Mittelpunkt: der Engel Pfau, "Tawusi Melek." Für manche Muslime symbolisiert er den in Ungnade gefallenen Engel und gilt als das Böse. Weltweit gibt es rund 800.000 Jesiden, so die Schätzungen. Sie leben vorwiegend in der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak, In Österreich gibt es rund 1000 Jesiden. Die meisten stammen aus dem Irak und haben das Land in den vergangenen elf Jahren nach dem Einmarsch der Amerikaner verlassen. Als Jeside wird man geboren. Beide Elternteile müssen jesidischer Abstammung sein. Geheiratet wird nicht nur innerhalb der eigenen Religion, sondern auch innerhalb der eigenen Kaste. So gibt es drei Kasten: Pir, Sheikh und Merit.

Flit Babayan ist Pir. Als eine Art Priester steht er ganz oben in der Hierarchie. Bei jeder Geburt, jeder Hochzeit, jedem Begräbnis der heimischen Jesiden muss Babayan anwesend sein - er ist zuständig für das Zeremoniell.

Geboren in Armenien, kam der 47-Jährige vor neun Jahren nach Österreich. Wie ein Priester sieht der Mann im weißen T-Shirt und der schwarzen Stoffhose nicht aus. Er entschuldigt sich für seinen Aufzug. Der Flüchtling hat keine Papiere, gilt als staatenlos, zieht von einer Notunterkunft in die nächste und ist auf die Hilfe der Community angewiesen. Er ist der einzige jesidische Priester in Österreich. Einmal im Jahr sollte er jedem Mitglied der Gemeinde einen Besuch abstatten, von Bregenz bis nach Wien. Da er keine Papiere hat, hat er Angst zu reisen. Immer wieder wird er von der Polizei aufgegriffen. Schon sieben Mal war er in Schubhaft - und sieben Mal hat er sich mit einem Streik rausgehungert.

Ausschreitungen in Deutschland

Früher hat sich keiner für sein Leben und das seiner Gemeinde interessiert. Seit dem Massaker hat sich das geändert. Die Minderheit bekommt Öffentlichkeit. Nicht nur im Irak, sondern auch in der Diaspora. Und das wird genutzt. Doch Babayan bleibt realistisch. "74 Mal", sagt er, "so viele Massaker hat es an den Jesiden gegeben. Und was ist passiert? Das nächste Massaker."

Eigentlich sollten sie alle raus aus dem Irak, ihre Heiligtümer in Lalisch, ihrem wichtigsten Pilgerort, wo sich das Grab ihres Heiligen Scheich Adi befindet, zurücklassen und nach Europa und Amerika flüchten. Diese Meinung teilen viele Jesiden. Doch auch im Exil fühlen sich viele nicht mehr sicher. Seitdem Anfang August Anhänger der Terrormiliz IS jesidische Männer im deutschen Herford in Nordrhein-Westfalen im Vorfeld einer Solidaritätskundgebung angegriffen haben, geht die Angst auch in allen Exil-Gemeinden in Europa um. In Österreich kam es bisher zu keinen Zwischenfällen. Hier spielt sich die Hetze im Netz ab. So rufen Halbstarke auf sozialen Medien dazu auf, Jesiden mit Steinen den Kopf einzuschlagen. Die Polizei ermittelt derzeit wegen des Verdachts auf Volksverhetzung. Um wie viele Fälle es sich handelt, kann der Polizeisprecher nicht sagen. Personenschutz für Mitglieder der jesidischen Community wurde bisher keiner angefordert. Weiter: Man steht mit Vertretern der Gemeinde in Kontakt und beobachtet vorläufig einmal die Lage.