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Geduldet im Nirgendwo

Von Katharina Schmidt

Politik
Hoffen auf ein neues Zuhause: Pascal Steiner (r.) mit "seinen" Buben.
© kats

Ein Vorzeigemodell im Asylstreit? Im Burgenland hat die Diakonie ein Flüchtlingsheim errichtet - ohne großen Widerstand.


Rechnitz. Eine Kurve noch, dann ist das Ende der Welt erreicht. Dieser Eindruck drängt sich dem Reisenden auf, der sich von Wien kommend seinen Weg in diesen abgelegenen Zipfel des Landes bahnt. Doch weit gefehlt - nach der Kurve wird es erst richtig spannend. Kilometerlang geht es plötzlich bergauf, durch den dichten Nadelwald des Geschriebensteins, mit fast 900 Metern die höchste Erhebung des Burgenlandes. Eine Kurve noch, dann ist der Spuk vorbei und es öffnet sich die Weite Pannoniens. Viel Burgenland gibt es dort dann nicht mehr. Nur noch die 3200-Seelen-Gemeinde Rechnitz trennt Österreich vom Nachbarland Ungarn.

Dort, mitten im weinbebauten Nirgendwo, wohin sich die Touristen nur dann verirren, wenn sie viel Ruhe brauchen, ist vor etwas mehr als einem Jahr die große weite Welt eingezogen. Im Mai 2013 wurde das ehemalige evangelische Jugendgästehaus in ein Heim der Diakonie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge umgewandelt. Die 36 Bewohner werden direkt aus der Erstaufnahmestelle Traiskirchen hierher in die Grundversorgung überstellt. Und während sich andere Gemeinden vehement gegen die Errichtung einer Unterkunft für Asylwerber wehren, hat es in Rechnitz einigermaßen reibungslos geklappt.

Das Gebäude neben der evangelischen Kirche wurde viele Jahre als Jugendgästehaus geführt, zuletzt aber mit wirtschaftlichen Problemen. Als die Diakonie eine Unterkunft suchte, war der Schritt zur evangelischen Gemeinde nicht mehr weit. Bis zur Verwirklichung habe man zwei Jahre gebraucht, erzählt der wirtschaftliche Leiter des Hauses, Norbert Fekete, der selbst in der Pfarre aktiv ist. Es mussten die verschiedensten Gremien der Kirchengemeinde eingebunden werden - "wir wollten, dass es von der breiten Masse getragen wird".

Den Bürgermeister stellte man allerdings vor vollendete Tatsachen, worüber Engelbert Kenyeri (SPÖ) bis heute nicht gerade glücklich ist. "Ich bin nicht gefragt worden", sagt Kenyeri ein wenig verschnupft zur "Wiener Zeitung". Wäre er gefragt worden, hätte er sich das Projekt erst "anschauen müssen", meint er. "Uns hat es vor allem schwer getroffen, dass es das Jugendheim jetzt nicht mehr gibt." Positiv für die Gemeinde wertet er, dass Arbeitsplätze geschaffen wurden und jeder Einwohner mehr bares Geld im Finanzausgleich bringt.

"Es gab Opposition, aberkeine Frontalopposition"

Seitens der Diakonie hat man mit Informationskampagnen im Gemeinderat oder unter Senioren vermieden, dass sich wie in anderen Orten Bürgerinitiativen bilden. "Es gab Opposition, aber keine Frontalopposition", sagt Fekete. Auch sei die negative Haltung der Einwohner schnell von den Buben "enttäuscht" worden: "Viel Arbeit haben sie selbst übernommen, weil sie einfach lieb sind", so Hausleiter Pascal Steiner.

Die Burschen sind zwischen 15 und 18 Jahre alt, sie kommen aus Afghanistan, Bangladesch, Marokko und Tunesien, in letzter Zeit sind aber auch viele Syrer und Somalis dabei, so Steiner. "Die Familien schicken den ältesten Sohn nach Europa, viele sind Waisenkinder, auf ihnen ruht dann die gesamte Verantwortung."

So war es auch bei Yasin. Mit 16 flüchtete der heute 18-Jährige aus Pakistan nach Österreich. Die Familie wohnte ursprünglich in Afghanistan, Yasin lernte weder schreiben noch lesen, sondern half seinem Vater bei der Gartenarbeit und hütete Schafe. Als der Vater ermordet wurde, verkaufte die Mutter das Haus und floh nach Pakistan. Drei Monate war Yasin unterwegs, 8000 Euro aus dem Hausverkauf finanzierten die Reise. Nun bekommt er subsidiären Schutz. Er darf für ein Jahr hier bleiben, aber nicht arbeiten, dann muss er noch einmal zum Interview. In der Zwischenzeit, erklärt Yasin auf Deutsch, lernt er lesen und schreiben - und geht in die Musikschule. Zuletzt trat er mit ein paar Kollegen beim Wiener Impulstanzfestival auf.

Die Zusatzaktivitäten sind für das Heim schwer zu finanzieren. 600 Stunden Deutschkurs stehen Unter-18-Jährigen zur Verfügung, damit "ist das Burgenland vorbildlich", sagt Steiner. Weniger vorbildlich ist der Satz von 3,64 Euro pro Stunde und Person. Manche der Heimbewohner sind wie Yasin Analphabeten, andere haben schon als Kind in der Computerbranche oder als Näher in einer Textilfabrik gearbeitet. "Wir versuchen immer, alle fit zu machen, dass sie in den Hauptschulabschlusskurs der VHS gehen können, der ist gratis", sagt Steiner.

Dass die Jugendlichen im Asylverfahren nicht arbeiten dürfen, macht ihnen schwer zu schaffen. "Es geht ihnen nicht gut damit, dauernd Danke sagen zu müssen", sagt er. Auch Barbara Schmallegger, Diakonie-Fachbereichsleiterin für Unterbringung und Betreuung, meint: "Man würde der Politik gerne erklären, dass diese Leute viel mitbringen und nicht nur Belastung sind."

Doch von der Finanzierung her sind sie Menschen zweiter Klasse: Da es sich bei dem Heim um eine Jugendschutzeinrichtung handelt, gelten dieselben Auflagen wie für alle anderen, die von der Jugendwohlfahrt kontrolliert werden.

"Halb so viel wert wieein Österreicher"

Der Satz, mit dem die Rund-um-die-Uhr-Betreuung sichergestellt werden muss, liegt mit 77 Euro pro Tag und Person aber deutlich unter jenem für österreichische Jugendliche (130 Euro). "Ein Flüchtling ist also halb so viel wert wie ein Österreicher", sagt Steiner. "Diese Ungleichbehandlung könnte einen tatsächlich in den Wahnsinn treiben", betont Schmallegger. Dazu kommt: Ein Drittel der Jugendlichen ist schwer traumatisiert, "psychogene Krisen, Krampfanfälle und Ähnliches gehören zu unserem Alltag", sagt Steiner. Er hat um Psychotherapie angesucht - "wir stehen auf der Warteliste".

"Die normale Grundversorgung geht nach dem Motto ,warm, satt, sauber‘. Aber das ist in der Flüchtlingsbetreuung nicht genug", betont Schmallegger. Aus der Bevölkerung gibt es allerdings auch Hilfsangebote. Zum Beispiel erzählt eine Rechnitzerin, dass sie mit den Flüchtlingen zum Arzt fährt. Bisher haben die Asylwerber an zwei Pfarrfesten teilgenommen: "Beim ersten waren sie noch ganz schüchtern, aber wir haben sie uns geschnappt und mit ihnen getanzt, und dann war der Bann gebrochen." Beim zweiten Pfarrfest haben die Heimbewohner bereits selbst einen Kebap-Stand betrieben. Natürlich gebe es auch negative Stimmen, meint die Rechnitzerin. Ein Konfliktfall sei der Spielplatz: Dort gebe es immer wieder Anrainerbeschwerden, "weil 15 Jugendliche einfach lauter sind als drei kleine Kinder", erzählt Bürgermeister Kenyeri. Und die Rechnitzerin ergänzt: "Eine Anrainerin kassiert den Ball ein, wenn er ihnen über die Mauer fliegt, und bringt ihn zur Polizei - dabei hat sie selbst Söhne, die waren auch nicht anders."

Auch Hausleiter Steiner berichtet von gelegentlichen Pöbeleien oder von dem Disco-Betreiber, der aus Angst vor Raufereien keine Asylwerber bei sich haben will. "Wir sind nicht das Musterbeispiel der Flüchtlingsbetreuung, aber es geht", sagt Kenyeri.

Kommunikation aufbeiden Seiten fehlt

Er hätte sich mehr Kommunikation mit der Bevölkerung im Vorfeld gewünscht. Diese wiederum sieht auch den Bürgermeister in der Pflicht: "Warum gibt es niemanden von Gemeindeseite, der die Bevölkerung anspricht?", sagt eine Wahlrechnitzerin. Auch Steiner solle mehr auf die Rechnitzer zugehen, findet sie. Und ihr Mann ergänzt: "Es gibt zu wenig empathische Kommunikation. Die Asylwerber stören nicht, sie fallen nicht auf, aber der Nachteil ist, dass man nichts von ihnen weiß."

Steiner sieht indes eine Holschuld: "Es überwiegt die Gleichgültigkeit und Ignoranz - es ist eine Art Duldung." Dabei könne Rechnitz, das immer noch in der Assoziation des Kreuzstadls lebe, dadurch ein positives Image erhalten. Denn das ist die Geschichte, mit der viele Österreicher den Ort auf der anderen Seite des Geschriebensteins verbinden: das Massaker an 200 Juden in der Nähe des Kreuzstadls in den letzten Kriegstagen 1945. Die Leichen wurden nie gefunden. Vor diesem Hintergrund "ist unsere Einrichtung eine Chance für Rechnitz", sagt Steiner.

Asylstreit

Die meisten Gemeinden wehren sich gegen die Einrichtung eines Asylwerberheims. Das hat zur Folge, dass die Bundesländer ihre mit dem Bund vereinbarten Quoten, Asylwerber in der Grundversorgung aufzunehmen, nicht erfüllen. Dadurch wiederum müssen die Asylwerber viel länger als geplant in den Erstaufnahmestellen Traiskirchen (NÖ) und Thalham (OÖ) verbleiben. Ende Juli hat Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) kurzerhand einen Aufnahmestopp in Traiskirchen verhängt, obwohl die Maximalkapazität noch nicht erreicht war. Nun bereitet das Innenministerium Notschlafstellen vor. Man geht von einem Anstieg der Anträge um 27 Prozent aus. Verglichen mit der Situation vor zehn Jahren sind die Antragszahlen niedrig.