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Die verlorene Generation der Tschetschenen

Von Clemens Neuhold

Politik

Warum ist der rot-weiß-rote Dschihad derart tschetschenisch geprägt?|Spurensuche in einer verstummten Community.


"Ich kenne Leute, die gefahren sind. Sie haben Frau und Kind. Ich hätte mir das nie gedacht."

Gerasdorf in Niederösterreich. Die einzige Strafanstalt für männliche Jugendliche. Ein Insasse erzählt über Tschetschenen, die sich Terrormilizen wie IS in Syrien angeschlossen haben. Nennen wir ihn Rustam D. Er will anonym bleiben, so wie viele Gesprächspartner, die über den Dschihad der Tschetschenen reden. Die härtesten Burschen geben sich bei diesem Thema zugeknöpft. Einzig ein Veteran aus zwei Tschetschenienkriegen wird mit seinem Namen sprechen.

Image-Super-GAU

Tschetschenen. 15.000 leben in Wien, 30.000 in ganz Österreich. Das ist die größte Exil-Community außerhalb Tschetscheniens. Sie flüchteten vor dem zweiten Tschetschenienkrieg, der von 1999 bis 2009 das Gebiet in Schutt und Asche legte. Nun sind sie hier und sie haben ein mächtiges Imageproblem. Das haben auch Türken oder Georgier. Aber keine Volksgruppe hat in Österreich je einen so rapiden Imageverlust erlebt wie Tschetschenen. "Vater droht in Millenniums-City mit Bombe". Tschetschene. "Schießerei zwischen Familienclans." Tschetschenen. "Mord in Linz." Angeblich Tschetschene. Boston-Marathon-Attentat. Tschetschene.

Und schließlich die Statistik, die Österreich verändert hat. 150 Austro-Dschihadisten zogen von Österreich aus in den Heiligen Krieg nach Syrien. Mehr als die Hälfte davon sind Tschetschenen. Vorbei mit der Insel der Seligen. In internationalen Analysen gilt Österreich als Kernland für den Dschihad-Export. Ausschlaggebend dafür ist der "Sonderfaktor Tschetschenen".

Für FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache sind sie Feindbild Nummer 1. Er will alle überprüfen.

Mythos und Schweigen

Warum Tschetschenen? Dieses "Warum" wird genährt von den täglichen Berichten über den IS-Terror. Und es wird genährt vom Schweigen der Tschetschenen, die keine Öffentlichkeit haben - keinen Sprecher, Prominenten, religiösen Führer, der sie verteidigt, ein anderes Bild von ihnen - einen Gegenentwurf -zeichnet. Der darauf verweist, dass ein paar Dutzend IS-Kämpfer nicht eine Gruppe aus 30.000 Menschen repräsentieren; darauf, dass Tschetschenen in den Gefängnissen zwar überrepräsentiert sind, aber mit weit unter 100 Inhaftierten nicht die Gefängnisse sprengen; darauf, dass sie im Unterschied zu anderen Gruppen mit Prostitution und Drogenhandel nichts am Hut haben; darauf, dass sie im Grunde gerne arbeiten; darauf, dass Tschetschenen auch studieren oder ins Gymnasium gehen, wie die Töchter des Veteranen; darauf, dass die meisten Tschetschenen ein bescheidenes Leben führen und wie alle anderen Flüchtlinge schauen, wie sie über die Runden kommen.

So lebendig die Tschetschenen untereinander tratschen - manche meinen, heftiger als die Italiener - so stumm ist die Community nach außen. Das liegt teils an der Angst vor dem russentreuen Machthaber Ramsan Kadyrow in Grozny und seinen "Augen und Ohren" in Wien, teils an den schlechten Deutschkenntnissen.

Ohne Gegenerzählung wächst der Mythos vom gewaltbereiten, fanatischen Tschetschenen, der "nichts fürchtet außer Gott" - so beschreiben sich junge Tschetschenen in Parks gerne selbst.

Die Spurensuche nach dem "Warum" beginnt in einem Restaurant nahe der Justizanstalt Josefsstadt ("Landl"). 40 Tschetschenen sitzen hier. Ein Justiz-Experte aus dem Landl hat eine mögliche Antwort auf das "Warum", eine Erklärung für die auffällig große Zahl an Austro-Dschihadisten in Syrien: "In der Türkei gibt es seit dem 19. Jahrhundert eine tschetschenische Diaspora. Zwischen den türkischen und österreichischen Tschetschenen hat sich ein starkes Netzwerk gebildet. Über diese Schiene könnte der Transport der Syrien-Kämpfer laufen." Von neun Dschihad-Touristen, die jüngst an der österreichischen Grenze an der Ausreise gehindert wurden, war ausgerechnet der Schlepper ein Türke.

Wien, Favoriten, ein Segafredo am Keplerplatz. Treffen mit dem 25-jährigen Ismail F. (Name von der Redaktion geändert). Er arbeitet in einem Lokal, das auch Tschetschenen frequentieren. Er spricht über die Welt der Straße, der Parks, der Banden, in der die IS-Propaganda auf fruchtbaren Boden fällt.

Etliche tschetschenische Syrien-Kämpfer will er persönlich kennen, oder zumindest Leute, die damit angeben. "Einer erzählt hier überall herum, er habe in Syrien Menschen geköpft. Dann geht er ganz normal arbeiten."

F. ist im 5. Wiener Bezirk mit Tschetschenen in die Schule gegangen, hat mit ihnen gespielt, beim Karate-Training geschwitzt. Er war ihnen nahe, jetzt sind sie ihm fern. "Du sagst Servus, und der Typ ermahnt dich: ,Das heißt: Salem aleikum.‘ Es ist ein kaltes, herzloses Grüßen. Es vermittelt Dir: Werde so wie wir, sonst kann ich nicht mehr mit Dir reden."

F. ist selbst Migrant, selbst Moslem. Die Tschetschenen seien aber "anders". "Wenn wir im Park gerauft haben, waren sie aggressiver als die anderen. Wenn Du einen besiegt hast, schlugen Dich 20. Hast Du mit einem Stress, hast Du mit allen Stress."

Die Gruppe. Auf der Straße sind junge Tschetschenen selten alleine, sondern geballt wie eine Faust. Tarnweste, Haube, Kapuzenpulli, Army-Hose - im Army-Shop sind sie gute Kunden. "Sie sind auf Kampf konditioniert. Für sie zählen Ringen, Kämpfen, Ehre. Doch was erreichst Du in Österreich damit außer einen Job als Security, Türsteher, Profiboxer?"

Auch F. hat eine Antwort auf das "Warum": "Mit ihrer Mentalität, die nur Kampf und Ehre kennt, sind sie hier gescheitert. Sie haben kaum Bildung, wollen aber auch Markenklamotten und Autos. Das führt in eine Spirale aus Raub und Gefängnis."

Und der Heilige Krieg? "Durch ihn haben sie eine Lebensaufgabe bekommen. Jetzt zählt ihre Stärke plötzlich." F. vergleicht die Lage mit einem Land voller gelernter Spengler ohne Spenglereien. "Und dann taucht plötzlich ein neues Land auf, das dringend Spengler sucht."

Gegen die Wand

Gerasdorf, Strafanstalt für männliche Jugendliche, 78 Insassen, darunter viele Tschetschenen. Sozialarbeiterin Ursula Terler will ihre Schützlinge in Österreich zu einem echten Handwerk überreden. Spengler, Maurer, es gibt viel Angebot. Doch sie ist ratlos. "Sie wollen nichts, sie brauchen nichts, wir wissen nicht, welches Angebot wir ihnen machen sollen", sagt sie. Für eine Lehrausbildung seien die sprachlichen und intellektuellen Barrieren oft zu hoch. Und dann gibt es noch pseudo-religiöse Barrieren. So bekam Gefängnisleiterin Margitta Neuberger-Essenther nicht nur einmal zu hören: "Wir sind Tschetschenen, wir arbeiten nicht für Ungläubige", wenn sie sie zu einer Lehre überreden wollte.

In ihrem Gefängnis sitzen junge Tschetschenen meist wegen schweren Raubes. Dabei ist eine Waffe oder eine gefährliche Drohung im Spiel. Ein Klassiker ist das geraubte Handy. Nach sechs bis 12 Monaten kommen sie meist wieder raus. Wenig Zeit für eine Resozialisierung. Sechs Tschetschenen musste Neuberger-Essenther trotz des kurzen Aufenthalts verlegen. "Sie haben die anderen Häftlinge erpresst und drangsaliert." Das Gruppenphänomen. Auch hier. "Der einzelne Tschetschene ist kein Problem, aber sobald drei bis vier Tschetschenen zusammenkommen...", sagt die Direktorin.

Der verstaubte Boxsack

Ihren eisernen Zusammenhalt hat schon Alexander Solschenizyn in "Archipel Gulag" beschrieben. Und wenn der Feind wie im sicheren Österreich fehlt, greift man eben selbst an und "spielt Krieg", sagt Turler.

Junge Tschetschenen lieben Kampfsport. In ihrer Heimat gilt alles außer Ringen und Boxen als Mädchensport. Sich auszupowern täte ihnen gut. Der Boxsack in der Kraftkammer ist trotzdem abgehängt. Man fürchtet Schlagzeilen wie: "Gerasdorf macht Tschetschenen zu Kampfmaschinen."

So gruppieren sich die Tschetschenen in Gerasdorf, währen die anderen kicken, lieber um ihren Ältesten. Der sitzt manchmal erhöht wie auf einem Thron, erzählt Neuberger-Essenther. "Sie akzeptieren kaum Anordnungen oder Autoritäten, nur den Ältesten in der Gruppe."

Viele junge Tschetschenen haben ihren Vater im Krieg verloren. Die Mutter taugt in der patriarchalischen Gesellschaft mit ihrem Gewohnheitsrecht "Adat" nicht als Vater-Ersatz. "Schon Minderjährige geben vom Gefängnis aus den Ton daheim an", sagt Terler. Nur auf diese Älteren hören sie. Deswegen setzt Neuberger-Essenther auf die Vernunft dieser Anführer.

Was den Kampf um die labilen Psychen der Insassen erschwert, sind die Gräuel-Bilder im Internet. Handys und Internet sind in Gerasdorf verboten. Trotzdem fliegen sie über die Gefängnismauern. So kursieren Bilder über Gräueltaten an Kindern, Alten, Frauen auch dort, wo die Wut auf die Welt ohnedies schon am Überschäumen ist. Es sind nicht die Bilder, die wir täglich sehen, die Köpfungen, die IS-Propaganda. Es sind Bilder über die Gräueltaten des syrischen Diktators Bashar al Assad an der syrischen Bevölkerung. Diese Bilder spielen seit Jahren eine wichtige Rolle für die Mobilisierung junger Tschetschenen - schon bevor die IS en vogue war. Von der heftig umkämpften nordsyrischen Stadt Aleppo aus werben Tschetschenen Landsleute aus aller Welt damit gezielt an.

Häftling Rustam D. erzählt: "Den österreichischen Medien glaubt man nicht. Man hat seine eigenen Kanäle. Dort wird man vollgepumpt mit Horrormeldungen über das, was Assad in Syrien anrichtet." Die Frage, die D. zu Beginn selbst aufgeworfen hat, steht noch immer im Raum.

Warum gehen selbst tschetschenische Familienväter in ein fremdes Land kämpfen? Seine Antwort aufs "Warum": "Sie glauben, sie tun dort etwas Gutes."

Diese eigene Definition von Gut & Böse ist nur durch diese mediale Parallelwelt zu verstehen. Und durch den alten Gegner ihrer Väter: Russland. In Analysen über die Motive der Tschetschenen fällt oft das Wort "Stellvertreter-Krieg". Der historische Feind Russland ist der engste Verbündete des syrischen Diktators Assad. Er gab ihm russische Panzer, russische Waffen. Der Kampf gegen Assad bedeutet für junge Tschetschenen auch einen Kampf für die Ehre der Väter.

Mit IS, die rund um Kobane keine Assad-Soldaten bekämpfen, sondern unschuldige Kurden und Jesiden abschlachten, versklaven, vergewaltigen, tritt dieser Stellvertreterkrieg in den Hintergrund und der Heilige Krieg ins Zentrum. Es greift die poppige Dschihad-Romantik. Dieser Faszination für den Islamismus sind Tschetschenen schon früher einmal erlegen - noch in Tschetschenien.

Am Rand des 14. Bezirks, in einer Nachkriegssiedlung, lebt ein Veteran aus beiden Tschetschenienkriegen. Treffen mit dem 57-jährigen Huseyn Iskhanov in seiner kleinen Wohnung, wo er mit seiner Frau und sechs Töchtern wohnt. Im Bücherregal "Archipel Gulag", an der Wand ein Bild von tschetschenischen Bergkriegern. Zwischen dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg war er Abgeordneter in Grozny. Er kann sich gut an die Wahhabiten erinnern, die islamistischen Freischärler aus Saudi-Arabien, die in den beiden Tschetschenien-Kriegen gegen die Russen aufmarschierten.

"Auf Arabisch, der heiligen Sprache, schwangen sie schöne Reden vom Paradies. Das war wie Hypnose. Sie hatten tolle Uniformen, aßen Snickers. Wir hatten altes Brot und zerfetzte Uniformen. Jeder wollte sein wie sie."

Die verlorene Generation

In Syrien können sich junge Tschetschenen nun wieder arabische Vorbilder suchen - die sie nicht selten mit einem guten Söldner-Salär belohnen. Iskhanov stört das. Er hätte damals am liebsten auch gegen die Wahhabiten gekämpft und sie aus Tschetschenien geworfen. Denn "in Tschetschenien hab ich diesen Fanatismus vorher nicht gesehen. Das hat keine Tradition bei uns. So sind wir nicht. Die Araber haben eine ganz andere Mentalität." Wahhabiten hätten sich nicht in die tschetschenische Armee eingefügt, aber man habe sie gebraucht. Nun rät er Jugendlichen, Distanz zu den "Arabern" zu halten. "Wir kämpften in Tschetschenien für die Freiheit, nicht für den Heiligen Krieg."

Auch Iskhanov hat seine Antwort auf das "Warum": "Es ist eine verlorene Generation." Er meint Tschetschenen, die mit zehn Jahren oder älter nach Österreich kamen. Die Flucht habe oft Jahre gedauert, mit Zwischenstopps in Aserbaidschan, Weißrussland, Polen. Verlorene Jahre ohne Schule, Alphabet, Bücher, Heimat, Geschichte. "Wenn Dein Kopf leer ist, kommt jemand und füllt ihn." Bei IS sei in Wirklichkeit die Helden-Romantik ansteckend, nicht die Religion.

Sprache verstummt

Iskhanov würde die Köpfe der Jungen stattdessen lieber mit Geschichten über Tschetschenien füllen, denn er fürchtet um die Erinnerung an die Heimat. Deren wichtigste Säule, die Sprache, bröckelt. Die Jungen sprechen sie nur noch versatzstückhaft. Für jene, die als Kleinkinder oder Babys flüchteten und ab sechs Jahren hier in die Schule gingen, ist Deutsch oft die einzige Sprache.

Wird diese neue Generation dank besserer Ausbildung den Ruf der Tschetschenen reparieren? Und welche Zukunft hat die "verlorene Generation"?

"Sie werden älter und am Bau ihr Geld für die Familie verdienen müssen. Dann ist es rasch vorbei mit der Romantik", hofft der Veteran. "Am besten wären sie beim Heer aufgehoben. Ich garantiere, Tschetschenen würden mit ihrem Kämpferherz an vorderster Front für Österreich kämpfen."

Tschetschenen, die jetzt Ärger machen, als Patrioten? "Mit dem Abstand zum Krieg tritt eine Normalisierung ein. Das war bei Ex-Jugoslawen auch so", sagt Terler. "Afghanen und Iraker, die jetzt kommen, sind noch traumatisierter, dagegen sind Tschetschenen fast wieder normal." Vielleicht sind sie doch nicht so anders.