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"Schöne neue, brüchige Arbeitswelt"

Von Bettina Figl

Politik

Ein Interview über selektive Schulsysteme, prekäre Jobs und gefährliches Expertentum.


"Wiener Zeitung": Während in der Bildungspolitik derzeit sehr oft vom lebenslangen Lernen die Rede ist, kritisieren Sie diesen Ansatz. Wieso?Ulla Klingovsky: Weil die Gefahr besteht, dass sich der Staat und die Gesellschaft damit zusehends aus der Verantwortung ziehen und das Geschehen dem Markt überlassen. Ob der Einzelne am Arbeitsmarkt scheitert oder Erfolg hat: Dafür wird er allein verantwortlich gemacht.

Aber ist denn der Staat verantwortlich? Was ist mit der Verantwortung des Einzelnen?

Die Geschichte der Erwachsenenbildung ist eine politische. Menschen haben sich aus der Unmündigkeit befreit und der Vernunft bedient. Doch dieser Gestaltungsspielraum ist aufgrund der gesellschaftlichen Transformationsprozesse der vergangenen Dekaden aus dem Blick geraten. Es ist völlig verloren gegangen, dass es eine gesellschaftliche Verantwortung für unser Miteinander gibt. Es ist die Aufgabe des Staates, die strukturellen Bedingungen für Bildung zu schaffen, zu stärken und gesetzlich zu verankern, dass jeder Mensch ein Recht auf Weiterbildung hat - das ist ganz etwas anderes, als zur Pflicht der Weiterbildung aufzurufen.

Welche Veränderungen nehmen Sie in der Arbeitswelt wahr?

Es wird immer wichtiger, dass sich der ganze Mensch einbringt, jeder soll Unternehmer seiner selbst werden. Es gibt Beschäftigungsverhältnisse mit viel Verantwortung und Spielraum, und Menschen scheinen sich darin wohlzufühlen. Selten spricht man davon, dass diese schöne neue Arbeitswelt brüchig ist: Die Tendenz zum zweiten und dritten Job oder der Zeitarbeit gibt es. An den Unis hanteln sich junge Mitarbeiter von einer Projektstelle zur nächsten, das erschwert die Lebensplanung. Die Quote der befristeten Beschäftigungen bei angestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern liegt an den Unis bei 85 Prozent. Auf eine unbefristete Stelle kommen also rund sieben befristete Stellen. Auch in der Erwachsenenbildung kann man fast nicht mehr von einem Beruf sprechen; das sind Beschäftigungsmaßnahmen auf kurze Zeit.

Kommen wir zu Ihrem Spezialgebiet, dem Lernen. Wieso verhindert die Schule das Lernen?

Weil sie nur vorgaukelt, es ginge ums Lernen. Dabei legt sie durch die institutionelle Struktur nahe, echtes Lernen sei nicht nützlich, um zu bestehen, daher entwickelt man Lernstrategien, die es ermöglichen, durchzukommen: Auswendiglernen, reproduzieren, und danach wird alles wieder vergessen. Mit expansivem Lernen, also der Erweiterung des Bedeutungshorizontes und dem Verstehen von Zusammenhängen, hat das nichts zu tun.

Manche Menschen sind von ihrem Schulbesuch regelrecht traumatisiert. Wie kann sie die Erwachsenenbildung erreichen?

Man muss ihnen zeigen, dass Lernen anderes sein kann. In unseren Schulsystemen wird in einem heimlichen Lehrplan selektiert. Traumatisierte Schulbesucher haben das Gefühl, es gehe gar nicht um ihre Bildungserfolge, sondern um ihre Platzierung in einer selektiven und zutiefst ungerechten Gesellschaft. Da finde ich die Verweigerung angebracht. Wenn der Gegenstand, mit ihrem Leben zu tun hat, gewinnt das Lernen eine neue Bedeutung.

Wie kann Lernen gelingen?

Die Idee, man könnte Lernen funktional gestalten, entspringt derselben Herstellungslogik wie bei einem Produkt. Lernen lässt sich aber nicht herstellen. Auch die Annahme, Lehren würde zu Lernen führen, ist ein Trugschluss. Bildung ist nur als Selbstbildung denkbar.

Sie glauben also nicht an "Lerntypen" oder visuelles Lernen?

Das ist der Versuch, etwas zu rationalisieren, das sich nicht rationalisieren lässt. Lernen ist viel zu komplex, als dass es kurzfristig herstellbar wäre. Viele, auch Unternehmen, erkennen das inzwischen. In Unternehmen braucht es vielmehr eine Weiterbildungskultur.

Ist lernen auch ein leidvoller Prozess?

Auf jeden Fall. Lernen ist immer auch Verlernen, man muss sich davon verabschieden, was man bisher glaubte zu wissen. Dieser Abschied kann schmerzhaft sein.

In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es das Klischee von lernfaulen Jugendlichen, die nur vor dem Computer hängen und nicht lernen wollen. Doch bei Spielen wie "World Of Warcraft" wird mit anderen interagiert, etwas aufgebaut. . .

Nur weil jemand Schulverweigerer ist, ist er nicht jenseits vom Lernen. Auch Computerspielen ist eine Form von Lernen. Bildung geht aber noch einen Schritt weiter und befähigt dazu, mich selbst in ein Verhältnis zu dem Gelernten zu setzen, zu reflektieren.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann ist ein Verteidiger des Frontalunterrichts - und Sie?

Frontalunterricht oder auch Vorlesungen haben ihre Berechtigung. Hauptsache ist, dass der Gegenstand verstehbar wird. Für unser menschliches Zusammenleben ist beispielsweise Physik wichtig, und oft lernt man darüber in der Schule gar nichts. Das ist eine Gefahr: Wenn die Welt nur noch aus Experten und schulisch verursachten Laien besteht, wird sie undemokratisch.

Eine Leserin fragt: Welche Fähigkeiten werden heutzutage verlangt, die längst nicht alle Menschen haben?

Die Sorge ist berechtigt: Man kann sich um Kompetenzen bemühen und trotzdem keinen Job finden. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt, denn die Angst vor Exklusion bringt die Menschen auf Linie. Das ist keine individuelle Sorge, sondern ein strukturelles Problem, auf das wir aufmerksam machen sollten. Wir sollten uns solidarisieren, doch stattdessen wollen wir alle die Nase vorne haben. Doch wir wissen längst, dass die Chancen nicht gleich verteilt sind. Wenn bei einem 100-Meter-Lauf alle denselben Körper, dieselbe Ausrüstung, dieselbe Luft zur Verfügung hätten, würde trotzdem nur einer als Erster ins Ziel kommen. Von Chancengleichheit ist nicht zu sprechen, daher müssten wir für mehr Chancengerechtigkeit sorgen.

Ulla Klingovsky (Jg. 1971) ist Professorin für
Erwachsenenbildung und Weiterbildung am Institut für Allgemeine Pädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.