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Die Absolventen der Traurigkeit

Von Stephanie de la Barra

Politik
Jasper P. ist bei weitem nicht der Einzige. Laut einer Studie haben 45 Prozent der Studierenden psychische Beschwerden.
© Luiza Puiu

Immer mehr Studierende leiden unter psychischen Beschwerden, darunter auch Depressionen.


Wien. Er bemerkte die Depression in seinem Zimmer. Jasper P. war in seiner WG und starrte auf die Uhr. 13.30 Uhr, Sonntag. Seit Stunden war nichts passiert. Sein Mitbewohner war nicht zu Hause. Die Freundin hatte ihn verlassen. Er ging im Zimmer auf und ab. Zuerst langsam, dann schneller. Blick auf die Uhr. Er legte sich aufs Sofa, dann auf den Boden, und fand keine Position, keine Ruhe. Panisch rollte er von einer Seite auf die andere. Erst, als er sich so fest in den Finger biss, wie er nur konnte, bemerkte er, dass etwas mit ihm nicht stimmte. "Es war so leer in mir, dass ich wieder etwas spüren wollte, egal was, und wenn es Schmerz ist", sagt Jasper P. heute.

Jasper P. (Name geändert), ist 25 Jahre alt, studiert Anglistik und Sportwissenschaften auf Lehramt an der Uni Wien und ist depressiv. Manchmal bekommt er auch Panik, wie an jenem Sonntag. Wie ihm geht es vielen Studierenden in Österreich, die mit Lernstress, Leistungsdruck und persönlichen Problemen nicht zurechtkommen. Woran liegt das? Sind das die Auswüchse unserer Leistungsgesellschaft?

Die Depression ist in westlichen Ländern längst zur Volkskrankheit geworden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert für 2020, dass Depressionen als lebenseinschränkende Erkrankung weltweit den zweiten Rang einnehmen wird.

Dass aber auch jene stark betroffen sind, die gemeinhin als "Partymenschen" gelten, nämlich Studierende, ist vielleicht noch nicht so sehr in den Köpfen angekommen. Laut der Studierenden-Sozialerhebung von 2011 gaben 45 Prozent der befragten Studierenden an, psychische Beschwerden zu haben. Darunter fallen: Leistungsdruck und Versagensängste, Existenzängste, Konkurrenzdruck, mangelndes Selbstwertgefühl, soziale Isolation und depressive Stimmungen. Wobei die Symptome oft ineinander greifen. Wer viel lernt, oft zu Hause ist, dessen soziale Kontakte reißen ab. Isolation kann die Folge sein. Es ist ein Teufelskreis aus Überlastung und Einsamkeit, der in eine depressive Stimmung führen kann. Bis die Lage kippt und der eigene Lebensweg in Frage gestellt wird. Manchmal auch das eigene Leben.

Jasper P. weiß das nur zu gut. Er sitzt bei einem Großen Braunen in einem Café in der Nähe der Margaretenstraße im 4. Bezirk, als er seine Geschichte erzählt. Zu Beginn war er nur etwas niedergeschlagen, vielleicht ein bisschen müde. Kommt ja vor. Dann fühlte er sich unwohl in Gesellschaft, zog sich zurück, in sein Innerstes. "Dann kam der Tiefpunkt", sagt Jasper P. und spricht etwas leiser. Er erinnert sich, wie er mit der U-Bahnlinie U6 fuhr. Neben ihm laute Kinder und Menschen, die zur Arbeit fuhren, die irgendeinem Ziel nachhetzten, die vielleicht sogar glaubten, einen Sinn im Leben gefunden zu haben, den er nicht sehen konnte. Unter ihm nur Wasser. Keine Menschen, keine Gedanken. "Da dachte ich zum ersten Mal, was wäre wenn."

Heute ist er froh, dass es bei dem Gedanken geblieben ist. "Da wusste ich, dass ich Hilfe brauche", sagt Jasper. Seine Worte klingen wie eine Anleitung zum Unglücklichsein, die er sich täglich vorsagte und nicht mehr vergessen konnte. Du schaffst das Studium nicht. Du bist nichts wert. "Ich war wie gefangen in meinen Gedanken, aber ohne Gefühle. Irgendwann war die Traurigkeit so groß, dass ich gar nichts mehr fühlte", sagt er. Es wurde ihm alles zu viel, die Trennung von seiner Freundin, der Lernstress, die Unsicherheit, ob er überhaupt das Richtige studierte. "Ich habe alles in Frage gestellt." Wozu noch Saxophon spielen? Wozu Lehrer werden? Wozu das alles?

Sexuelle Lustlosigkeitund Schlafstörungen

Mehr als zwei Wochen muss dieser Zustand anhalten, um wahrscheinlich von einer Depression sprechen zu können, steht auf der Homepage der "Psychologischen Studentenberatung", die vor allem bei Fragen zur Studienwahl, Lernschwierigkeiten und Prüfungsangst unterstützt. Aber eben auch bei Depressionen. Zu finden unter der unscheinbaren Rubrik "persönliche Probleme". Eine Art Checkliste für Studierende soll helfen, Symptome selbst zu erkennen. Hoffnungslosigkeit. Schlafstörungen. Sexuelle Lustlosigkeit. Schuldgefühle. Das sind nur einige davon.

18 Psychologen arbeiten in der Beratungsstelle und können direkt während der Öffnungszeiten oder nach Terminvereinbarung aufgesucht werden. Im Normalfall sind es 30 Neuzugänge pro Woche, im Wintersemester sind es 40 bis 50. Herbst-Winter-Depression heißt das im Fachjargon. Das AKH Wien hat sogar eine eigene Ambulanz dafür. "Bei 50 Neuzugängen in der Herbstwinterzeit kommen anteilsmäßig sicher bis zu 60 Prozent mit psychischen Problemen zu uns. Die Hälfte davon sind Depressionen", sagt Franz Oberlehner, Leiter der Psychologischen Beratungsstelle. Er sitzt in einem Besprechungszimmer der Einrichtung, neben ihm ein Sofa, ganz im Sinne Freuds. Die Taschentücher griffbereit. Natürlich könne die Beratungsstelle immer nur ein erster Anlaufpunkt sein, eine Vermittlungsrolle einnehmen und gegebenenfalls zu einer Therapie motivieren, so Oberlehner. "Langfristige Psychotherapien selbst anbieten können wir nicht, das würde unsere Kapazitäten völlig überfordern."

Dann noch ein Fingerzeig in Richtung Politik. Oberlehner formuliert bemüht vorsichtig, denn die Studierendenberatung wird vom Wissenschaftsministerium getragen. "Vergleicht man uns mit anderen Institutionen, sind wir noch relativ gut gefördert, aber natürlich würden wir uns da mehr wünschen. Im Moment sind 40 Wochenstunden unbesetzt und die hätte ich gerne."

Das Problem der psychischen Belastungen steigt. Die ständige Müdigkeit und das Gefühl von Kraftlosigkeit sind besser bekannt als Burnout. In der klinischen Diagnose wird das als "Erschöpfungsdepression" beschrieben. "Das hat natürlich damit zu tun, dass der allgemeine Druck ständig größer wird", sagt Oberlehner. Das Burnout entspräche von der Symptomatik einer Depression. "Es ist die Angst, in einer Leistungsgesellschaft nicht zu genügen, um die gewünschte Arbeitsstelle zu bekommen."

Denkt man dieses Szenario durch, könnte man fast meinen, wir betreiben einen Fordismus des Erfolgs, der sich das Immer-mehr und das Immer-schneller auf die Köpfe geschrieben hat, die jetzt versagen. Noch ein Praktikum, vielleicht ein zweites Studium, nebenher arbeiten, im Sommer natürlich ins Ausland.

Machen wir uns selbst krank oder ist es die Gesellschaft? "Ich kann nicht für die Gesellschaft sprechen", sagt Beate Weissinger, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision. Sie ist personenzentrierte Psychotherapeutin und beschäftigt sich immer mit dem Einzelfall. "Aber ich stelle fest, dass der persönliche Druck steigt." Durch das Bologna-System seien mehr Prüfungen in kürzerer Zeit zu bewältigen und der Erwartungsdruck steige unter den Studierenden. So würden sich viele erst nach einem abgeschlossenen Studium erst zutrauen, eine Bewerbung zu schreiben, so Weissinger. "In diesem Sinne ist hier Druck mit Angst gekoppelt. Aber an der Basis jeder Depression steht meistens Wut, die schambesetzt ist. Da geht es um Abwertungen, gerade in der Konkurrenzfrage." Ein Punkt, der vor allem Frauen massiv betrifft.

Zum Vergleich: Leistungsdruck und Versagensängste nehmen mit 31 Prozent den höchsten Anteil an psychischen Beschwerden ein, nach der Sozialerhebung von 2011. Noch vor Existenzängsten und depressiven Stimmungen, die bei 20 und 17 Prozent liegen. Vor allem an der Veterinärmedizinischen Universität und an den Kunstuniversitäten ist der Druck laut Studie am höchsten.

Leben, umzu arbeiten

Oberlehner führt die steigende Zahl der psychischen Störungen unter Studierenden auf fehlende Freiräume zurück. "Die Stimmung hat sich bei den Studierenden in den letzten Jahrzehnten geändert", sagt der Leiter der Beratungsstelle. Der Gedanke, neben dem Studium auch ein gutes Studierendenleben zu führen, führe zu einem schlechten Gewissen. Es ist nach Oberlehner also die Frage: Erlaube ich mir noch zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten?

Nächtelanges diskutieren über Streitschriften, leere Weinflaschen am Boden, auf dem Tisch eine heruntergebrannte Kerze. Rundherum eine Gruppe von jungen Leuten. Hat man früher noch über Adorno und Sartre diskutiert, erzählt man heute von der neuen Anstellung, dem Einstiegsgehalt und Silvester in New York. "Der Mythos vom studentischen Lotterleben war schon immer da und schon immer falsch", sagt Oberlehner. "Aber die Studierenden internalisieren ihn mehr als früher. Sie kommen sich so vor, als würden sie nichts leisten."

Mit dem 2011 veröffentlichten Bericht zur sozialen Lage der Studierenden sah sich die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) veranlasst, die "ÖH Helpline" zu gründen. Dreimal die Woche ist das Telefon besetzt, für je zwei bis drei Stunden. Für Akutfälle ist das natürlich nicht gedacht. Die Helpline hört zu und vermittelt Therapieplätze, wenn notwendig. Zehn Stunden Beratung werden pro Student zur Verfügung gestellt, bezahlt von der ÖH selbst. Denn Therapieplätze sind teuer und gerade Studenten kämpfen oft mit finanziellen Schwierigkeiten. Bei lediglich 21,80 Euro lag der Krankenkassenzuschuss noch bis November 2014, mittlerweile wurde er von der BVA auf 40 Euro erhöht. Trotzdem bleiben bei privater Psychotherapie, die zwischen 70 und 150 Euro pro Einheit kosten kann, durchschnittlich 50 Euro Selbstbehalt für den Klienten.

"Eine Psychotherapie ist ein teurer Spaß. Es bräuchte mehr Krankenkassenplätze", sagt Beate Weissinger. Sie hat vor wenigen Wochen als Therapeutin in Kooperation mit der ÖH angefangen. Mit Studierenden hat sie schon immer gearbeitet, stets an Orten, die leistbare Tarife anbieten. Zuerst war sie an der Sigmund-Freud-Ambulanz, dem Iwik - Verein zur Verbesserung der Lebensqualität und beim Psychotherapeutischen Bereitschaftsdienst (PTBD). Jetzt ist sie bei der ÖH-Helpline. Sie arbeitet in einer Bürogemeinschaft im 16. Bezirk, in der Friedmanngasse 66. Ein schlammfarbenes Haus mit engem Stiegenaufgang. Das Therapiezimmer dafür hell und warm im Kontrast. Zwei weiße Fauteuils, in der Ecke tickt eine hölzerne Standuhr. "Ein günstiger Therapieplatz bedeutet, die Therapeuten verdienen weniger. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, weniger zu verdienen", sagt Weissinger. Bei 85 Euro die Stunde liegt der durchschnittliche Tarif eines eingetragenen Therapeuten. Ihr Normaltarif liegt bei 60 Euro. Bei der ÖH sowie beim Bereitschaftsdienst verdient sie 35 Euro pro Stunde.

"Das klingt toll, davon wusste ich nichts", sagt Jasper P., als er davon erfährt. "Das hätte einiges leichter gemacht." Rückblickend fällt ihm bei der Suche nach einem Therapieplatz vor allem ein Wort ein: Labyrinth. Wo muss ich anrufen? Wer zahlt das? Welche Therapie brauche ich? "Ich habe mich hilflos gefühlt. Und meine Eltern haben das nicht verstanden", sagt er. Nur sein Bruder hat geholfen. Über das Internetportal PsyOnline.at hat er schließlich eine Therapeutin gefunden. Der letzte Krankenkassenplatz. "Ich hatte verdammtes Glück. Eine Therapie könnte ich nie selbst bezahlen."

Heute hat Jasper P. sein Leben wieder im Griff. Vor ein paar Wochen war er bei einer Schauspielschule zum Vorsprechen. Er hat ein kurzes Stück über seine Depression geschrieben. Er spielte sich selbst in seinem eigenen Drama. Und wurde angenommen.

Jasper P. ist bei weitem nicht der Einzige. Laut einer Studie haben 45 Prozent der Studierenden psychische Beschwerden.

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