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"Ein Kollaps ist wahrscheinlich"

Von Jan Michael Marchart

Thomas Szekeres, Präsident der Wiener Ärztekammer, über die Probleme in Österreichs Spitälern.


Wien. Derzeit kommt es in den Spitälern Österreichs zu längeren Wartezeiten bei geplanten Operationen oder in den Ambulanzen. Letztere werden auch zeitweise geschlossen. Grund ist die seit Jahresbeginn wirkende Arbeitszeitregelung. Eine EU-Vorgabe von 2003. Die Spitalsärzte dürfen demnach in einem Durchrechnungszeitraum von 17 Wochen nur noch 48 statt 60 Stunden pro Woche arbeiten - außer, ein Arzt unterschreibt eine Einverständniserklärung (Opt-out). Dann darf er länger arbeiten. Diese Übergangsfrist endet allerdings 2021.

Durch die Regelung verlieren die Ärzte Nachtdienste und Überstunden, damit ein Drittel ihres Einkommens. In den Wiener Gemeindespitälern soll es die 48-Stunden-Woche samt höherer Grundgehälter geben. Aber durch Umstrukturierungen sollen auch 382 Stellen eingespart werden.

"Wiener Zeitung":Herr Szekeres, heute startet die Urabstimmung der Wiener Gemeinspitäler über die Einigung des neuen Arbeitszeitmodells. Am Montag folgt das Ergebnis. Was sagt Ihnen Ihr Gefühl?

Thomas Szekeres: Es gibt Tendenzen in beide Richtungen. Die Stimmung ist denkbar schlecht. Ich hoffe auf eine Entscheidung für den Erhalt des Systems und für den Patienten. Bei einem negativen Votum kommt es zu Nachverhandlungen.

Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) mahnt die Vertragstreue ein. Häupl könnte trotz negativem Ergebnis das Gesetz auch ohne Zustimmung der Ärzte im März beschließen.

Ich glaube nicht, dass Häupl das machen wird. Es ist nicht klug, als Konzernchef gegen seine Mitarbeiter vorzugehen. Er sollte sie eher pushen. Ob nun eine Wahl bevorsteht oder nicht, darf dabei keine Rolle spielen.

Durch das Arbeitszeitgesetz sind die Ärzte künftig weniger verfügbar. Der Patient leidet darunter. Wie löst man das Problem?

Die Spitäler müssen umorganisieren. Ärzte sollen sich auf das konzentrieren, was sie gelernt haben. Die Pflege kann durch Blutabnahmen oder EKGs entlasten, für die Bürokratie sind administrative Kräfte zuständig.

In Zukunft wird es auch nicht möglich sein, dass man in Wien zu jeder Tag- und Nachtzeit in jede Abteilung gehen kann und einen Facharzt antrifft. Man wird sich überlegen müssen, welche Ambulanzen und Abteilungen in der Nacht geöffnet sind und die Patienten entsprechend leiten, damit das System günstiger wird.

Umorganisieren möchte man in den Wiener Gemeindespitälern (KAV). Wie kommt die Streichung von 382 Stellen bis 2018 zustande?

Das ist möglich und vereinbart, aber nicht plötzlich und nicht ohne Strukturmaßnahmen. Die 382 Stellen wurden durch eine Reduktion der Nachtdienste errechnet, wenn man die Hauptarbeit in den Nachmittag verlegt. Außerdem könnte man Abteilungen zusammenlegen, die Kassenplanstellen aufstocken oder eine zentrale Nacht-Notaufnahme schaffen, um die Arbeitsbelastung zu reduzieren. Ohne jegliche Umstrukturierung kann man kein Personal reduzieren. Das lehne ich ab. Damit fährt man die Leistung herunter, und zwar zulasten des Patienten.

Das Ärztearbeitszeitgesetz kam wahrlich nicht plötzlich. Es ist eine EU-Vorgabe von 2003. Umgesetzt hat sie Österreich erst mit Jahresbeginn. Warum hat man hierzulande so lange zugewartet?

Die Ärztekammer hat darauf hingewiesen. Der Bund, die Länder und die Spitalsträger haben aber nicht darauf reagiert. Hätte Österreich die Novelle nicht zu Jahresbeginn umgesetzt, wären hohe EU-Strafzahlungen fällig geworden. Das hat die Verantwortlichen aufgeweckt.

Die Wiener Stadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) meinte kürzlich, Wien wäre nicht darauf vorbereitet gewesen. Das kann man doch so nicht stehen lassen.

Sie hat davon gewusst. Auch die Stadt Wien kennt die EU-Gesetze. Aber man hat offensichtlich daran geglaubt, dass man um die Änderung herumkommt.

Im Wiener AKH, in Kärnten und in Oberösterreich gibt es weder eine Einigung noch eine Übergangsvereinbarung. Ist der Föderalismus bei den Verhandlungen ein Problem?

Ich würde mir eine österreichweite Entscheidung wünschen. Das macht auch Sinn, wir sind kein großes Land. Die mächtigsten Politiker sind aber die Landesfürsten. Die werden sich ihren Einfluss nicht nehmen lassen.



Die Ärztekammer wurde dafür kritisiert, die Mediziner bei den Verhandlungen nicht stark genug vertreten zu haben. Was hat die Kammer falsch gemacht?

Die Ärztekammer ist kein Gesetzgeber. Bei einem Ärzteüberschuss tun wir uns nicht leicht. Vor zehn Jahren gab es jahrelange Wartezeiten auf eine Stelle. Es ist leichter, die Interessen einer Mangelgruppe durchzusetzen, um die sich die Spitäler bemühen müssen. Die Politik sieht nicht in die Zukunft. In sieben Jahren bekommen wir es mit einer massiven Pensionierungswelle zu tun. Die Babyboomer gehen in Pension. Dann wird die Zahl der Ärzte zusätzlich absinken. Die Welle werden wir auch bei den Hausärzten spüren. Zu sehen, das ausreichend Ärzte im Land sind, ist aber Aufgabe der Politik.

Apropos zu wenige Ärzte: Eine Bedarfsstudie des Gesundheitsministeriums hat ergeben, dass Österreich bis 2030 20 Prozent mehr Ärzte braucht, das Ärztearbeitszeitgesetz noch gar nicht hineingerechnet. Steuert Österreich auf einen Kollaps zu?

Ein Kollaps ist wahrscheinlich, wenn man nicht gegensteuert. Was man machen kann, ist, die Spitäler zusammenzulegen und zu schließen, muss aber darauf achten, dass die Leistung für den Patienten erhalten bleibt. Die andere Option ist, dass man aus den Spitälern auslagert. Spitalsleistungen können durchaus im niedergelassenen Bereich erbracht werden. Dafür muss man aber dort finanziell aufbessern. Beides kann ich nicht herunterfahren, da bleibt der Patient auf der Strecke. Wobei, wenn das öffentliche System auslässt, boomt die Privatmedizin. Das erleben wir in Wien derzeit sehr stark.

Mit anderen Worten: Österreich wird mit weniger Ärzten zurechtkommen müssen.

Österreich wird sich darauf einstellen müssen. Eine Trendwende ist nicht absehbar, angesichts dessen, dass nur sechs von zehn Medizinabsolventen hierzulande zu arbeiten beginnen. Die Politik muss es möglich machen, die Arbeits- und Rahmenbedingungen attraktiv zu gestalten, damit die Jungen nicht abwandern. Geld ist viel, aber nicht alles. Auch die Arbeitsbedingungen und die Ausbildung müssen passen. Früher haben wir gearbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, und haben lange auf eine Anstellung gewartet. Einige haben sogar dafür bezahlt. Heute ist das undenkbar. Glücklicherweise.

Zur Person

Thomas Szekeres (53) ist ein österreichischer Humangenetiker und Facharzt für klinische Chemie und Labordiagnostik. Seit 1997 ist Szekeres Oberarzt am Klinischen Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik der Medizinischen Universität Wien.

2005 wurde er dort zum Vorsitzenden des Betriebsrates des wissenschaftlichen Personals. Seit 2012 ist er außerdem Präsident der Wiener Ärztekammer.