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419.875 Sorgen

Von Marina Delcheva

Politik

Die heimische Arbeitslosenquote verharrt mit fast 420.000 Arbeitslosen auf Rekordniveau. Auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren alte Gastarbeiter mit jungen Zuwanderern aus dem EU-Osten.


Wien. Männlich, Pflichtschulabsolvent, schlechte Deutschkenntnisse, über 50 - wer diese Merkmale mitbringt, landet derzeit mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit in der Arbeitslosigkeit. Im April waren 419.875 Personen beim Arbeitsmarktservice (AMS) als arbeitssuchend gemeldet. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg von 7,6 Prozent. In Österreich ist damit fast jeder Zehnte ohne Job. Die Arbeitslosenquote verharrt mit 9,1 Prozent weiter auf Rekordniveau. Eine Entspannung am Arbeitsmarkt ist derzeit nicht in Sicht. Zwar gab es im April fast 10.000 Arbeitslose weniger, und im Sommer wird eine saisonale Entspannung erwartet. Bis 2018 rechnet aber niemand mit niedrigeren Arbeitslosenzahlen.

Vor allem ausländische und ältere Arbeitnehmer mit niedriger Qualifikation finden schwer eine Arbeit. Sie werden oft durch junge und flexible Arbeitskräfte aus den östlichen EU-Ländern ersetzt, die gleich billig, aber besser qualifiziert sind.

Alte gegen neue Migranten

Zwar ist die Zahl der Beschäftigten und der offenen Stellen im Vergleich zum Vorjahr um 0,6 beziehungsweise um 0,2 Prozent gestiegen. Auf der anderen Seite drängen aber infolge des höheren Pensionsantrittsalters und der Zuwanderung immer mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt. "Arbeitslosigkeit und Beschäftigung sind keine kommunizierenden Gefäße", sagt AMS-Vorstand Johannes Kopf im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Seit der EU-Arbeitsmarktöffnung - seit Jänner 2014 dürfen alle EU-Bürger uneingeschränkt in Österreich arbeiten - wird außerdem ein Verdrängungseffekt sichtbar, wie Kopf berichtet: Neue, gut ausgebildete Migranten aus den östlichen EU-Ländern verdrängen langsam ältere, schlechter ausgebildete Gastarbeiter. Er erzählt etwa von einem Türken, der neun Jahre lang in Österreich am Bau gearbeitet hat. Heuer sei dieser nach dem Winter nicht wieder eingestellt worden. "Den Job hat jetzt ein Ungar", sagt Kopf. Ende April waren fast 98.000 Ausländer als jobsuchend gemeldet. Das sind 24,6 Prozent mehr als noch im April des Vorjahres.

Auch Menschen mit Behinderung und ältere Arbeitnehmer leiden stark unter der weiter steigenden Arbeitslosigkeit. In diesen Gruppen gab es einen Zuwachs von über 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Deshalb setzt man im Sozialministerium und beim AMS verstärkt auf Maßnahmen und Schulungen für ältere Arbeitnehmer, damit diese möglichst schnell und langfristig wieder beschäftigt werden. Der Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit liegt hingegen mit 8,3 Prozent unter dem Durchschnitt.

"Es ist bestürzend zu sehen, wie schnell die Arbeitslosigkeit in Österreich steigt", sagt Gudrun Biffl von der Donau-Universität Krems zur "Wiener Zeitung". Die Arbeitsmarktforscherin macht neben der schwachen Konjunktur - heuer wird ein Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwartet - auch fehlende Reformen für die Rekordarbeitslosigkeit verantwortlich. "Wir sind reformresistent gewesen, und jetzt bekommen wir die Rechnung präsentiert", sagt sie.

So habe Österreich in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen EU-Ländern wie Deutschland oder Dänemark wenig in Technologie und Forschung investiert. Außerdem ortet Biffl Missstände im Bildungssystem, die auch den Arbeitsmarkt belasten. Tatsächlich verfügt die Hälfte der heimischen Arbeitslosen höchstens über einen Pflichtschulabschluss. Laut Kopf liegt die Arbeitslosenquote in dieser Gruppe bei 26 Prozent. Zum Vergleich: Nur 3,2 Prozent der Akademiker sind ohne Job.

Zwar steht Österreich im EU-Vergleich noch gut da, den ersten Platz in der Arbeitslosenstatistik musste es aber an Deutschland abgeben. Mit 4,7 Prozent im März belegt Deutschland Platz eins in der Eurostat-Arbeitslosenstatistik. Österreich rutscht mit 5,6 Prozent auf Platz zwei. Die Differenz zur heimischen Arbeitslosenquote ergibt sich daraus, dass in Österreich jeder, der beim AMS gemeldet ist, als arbeitslos gilt, auch wenn man nebenbei geringfügig verdient. Nach Eurostat gilt man auch dann als beschäftigt, wenn man nur eine einzige Stunde pro Woche arbeitet.

Deutsche zieht es nach Hause

"Relativ wird Österreich weniger attraktiv", sagt Alexander Spermann vom deutschen Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Derzeit arbeiten rund 98.000 deutsche Staatsbürger hier, gefolgt von rund 68.000 Ungarn. Heuer könnten viele ostdeutsche Saisonarbeiter, die vor allem in den westlichen Tourismusgebieten arbeiten, zu Hause bleiben. Das liegt zum einen an der
guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland. Für heuer wird ein Wachstum von 1,5 Prozent erwartet. "Damit haben wir auch einen Aufschwung, der Arbeitskräfte benötigt", so Spermann. Allein im vergangenen Jahr seien 500.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen worden.

Zum anderen hat Deutschland heuer einen Mindestlohn von 8,5 Euro pro Stunde eingeführt. Locken die heimischen Betriebe nicht mit höheren Löhnen, vermutet Spermann, dass ein paar Deutsch lieber zu Hause bleiben oder gar zurückkehren. In Österreich hofft man jedenfalls, am deutschen Wirtschaftswunder mitnaschen zu können. "Sollte der Konjunkturaufschwung bei unserem Haupthandelspartner Deutschland anhalten, so werden das auch die österreichischen Betriebe über kurz oder lang spüren", meint Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) in einer Aussendung.