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"Das Armutsproblem wird bis heute krass unterschätzt"

Von Mathias Ziegler

Politik

Die EZA-Experten Thomas Vogel und Friedbert Ottacher im Interview über Fehler in der Entwicklungszusammenarbeit, neue Ansätze und das Verhältnis zwischen Gebern und Empfängern.


"Wiener Zeitung": Sie schreiben in Ihrem neuen Buch "Entwicklungszusammenarbeit im Umbruch" (Brandes&Apsel Verlag), die EZA sei 2015 an einem Wendepunkt. Wie meinen Sie das?Thomas Vogel: Die Millennium-Entwicklungsziele laufen aus. Das ist ein epochaler Einschnitt, wo jetzt die Fachwelt innehält. Einerseits wird auf internationaler Ebene Bilanz gezogen, andererseits laufen auch die Planungen für die neuen sogenannten Nachhaltigen Entwicklungsziele.

Friedbert Ottacher: Es ist auch die Aktualität des Themas: Wir haben ein Erdbeben in Nepal mit tausenden Toten und ertrinkende Bootsflüchtlinge und nach 65 Jahren EZA stellt sich nun die Frage: Ist das ein Zeichen des Scheiterns? Oder ist es ein Zeichen, dass man noch viel mehr tun müsste? Wir sind der Meinung, dass es mehr braucht.

Welche Fehler wurden gemacht?Ottacher: Ich denke, es beginnt mit dem Ansatz in den 1950ern, Modernisierung sei das einzig Wahre. Damals glaubte man, das westliche Modell einfach eins zu eins auf die Ex-Kolonien übertragen zu können, und die würden sich mit dem zur Verfügung gestellten Geld und Wissen in rasanter Zeit entwickeln. Die Enttäuschung war groß, als das nicht eingetreten ist.

Vogel: In 65 Jahren haben einander verschiedene Ansätze und Konzepte abgelöst, sind gescheitert, wurden analysiert. Hinter den Kulissen hat sich sehr viel getan, das für die Leute auf der Straße allerdings schlecht spürbar ist. Sehr viel Kritik läuft insofern mittlerweile ins Leere, weil sie sich auf längst vergangene Methoden der EZA bezieht. Am Anfang war man wirklich so naiv, dass man geglaubt hat, man könnte ihn kürzester Zeit, so wie in Europa mit dem Marshall-Plan, mit ein paar Milliarden die Armut beseitigen. Bis heute wird das Armutsproblem krass unterschätzt. Aufgabe und Werkzeug sind nicht im Einklang miteinander.

Wir schaffen es ja nicht einmal, die geforderten 0,7 Prozent des BIP für EZA aufzubringen.Vogel: Was blamabel ist, wenn man sich anschaut, wie viele Milliarden für andere Dinge da sind. 70 Prozent der Leute auf der Straße sind bereit, karitativ zu spenden. Aber es wird in der Politik nicht verstanden, das in Programme umzusetzen, wo auch eine Budgetzahl dranhängt. Ich sehe da ein Versagen der Politik.

Ginge es sich mit den 0,7 Prozent tatsächlich aus?Vogel: Die 0,7 Prozent entsprächen weltweit einer Summe von knapp 400 Milliarden Dollar im Jahr. Es wäre ein sehr großer Fortschritt, wenn man so viel Geld in die Hand nehmen könnte.

Ottacher: Die 0,7 Prozent waren 1969 ein ambitioniertes Ziel - und es ist auch heute noch ambitioniert, wenn man sich ansieht, wie wenige Länder es bisher erreicht haben. Österreich war immer sehr gut darin, sich durchzuschwindeln.

Vogel: Wenn man vergleicht, was Pakistan oder der Libanon bewältigt - da werden in Entwicklungsländern selbst Kontingente aufgenommen, die es in Europa noch nicht gab - und wie viele Familien in Deutschland und Österreich 1945 von Auslandshilfe abhängig waren oder im Ausland aufgenommen wurden, finde ich es schändlich, wie aus unserer Wohlstandssituation heraus mit diesen Problematiken umgegangen wird und die Verhältnisse einfach nicht passen.

Inwieweit darf/muss man Entwicklungsländer zum Glück zwingen?Vogel: Zwingen darf man nie. EZA ist immer eine Gratwanderung zwischen dem Herbeiführen und Begünstigen von Veränderungen, die man für wünschenswert hält, und dem Prinzip der Nichteinmischung, der Eigenständigkeit. Bei ein paar Fragen tun wir uns recht leicht. Zum Beispiel ist sich die Fachwelt bei weiblicher Genitalverstümmelung einig, dass man sich da engagieren sollte. Aber bei Meinungsfreiheit, politischer Mitbestimmung und demokratischen Freiheiten merkt man schnell, dass bestimmte Menschenrechte vor allem im Westen definiert wurden.

Ottacher: Es gibt auf akademischer Ebene auch die Post-Development-Strömung, die sich gegen EZA wendet, deren Zugang man im Satz zusammenfassen könnte: Lasst die Armen alleine. Das würden wir nicht machen. Wenn es um Menschenleben, soziale Gesundheit und Bildung geht, sehen wir eine Verpflichtung zum Eingreifen. Die Post-Development-Bewegung hingegen würde sogar so weit gehen zu sagen: Weibliche Genitalverstümmelung ist das Business der jeweiligen Gesellschaft, und wir haben kein Recht zur Einmischung.

Wie viel Geld versumpert wirklich?Vogel: Es gibt auch in der EZA das Problem von Korruption und undurchsichtigen Geldflüssen. Aber es versumpert auch Geld in Europa. Wäre der Berliner Flughafen in Uganda gebaut worden, hätte das Schlagzeilen als das große gescheiterte EZA-Projekt gemacht. Und man muss dazusagen, dass wir vor allem in Ländern agieren, die bereits im Korruptionsindex im unteren Bereich angesiedelt sind. Das verzerrt das Ganze etwas. Ebenso der Anspruch, dass bei Spendengeldern nichts verschwinden darf. Aber das passiert halt manchmal doch, auch bei Nichtregierungsorganisationen.

Ottacher: Diese Sache ist für mich ein klassisches Totschlagargument, um nicht zu spenden. Die Hilfsorganisationen sprechen heute offen darüber und stellen sich dem. Sie gehen auch gerichtlich dagegen vor. Nur so wird man vor Ort ernst genommen.

Vogel: Die Organisation, für die ich arbeite, beendet im Schnitt ein Projekt pro Jahr wegen Unregelmäßigkeiten. Wir müssen da konsequent durchgreifen, auch um unseren Partnern in der Region, die korrekt arbeiten, zu zeigen, dass sich das für sie lohnt.

Was halten Sie von Charity-Events mit Promis?Vogel: Wenn Kaviar und Lachsschnittchen gegessen werden, damit für die Armen im Süden Reis und Nudeln gekauft werden können, ist das eine Pervertierung.

Ottacher: Die meisten Charity-Events sind Teil des Kampfes um öffentliche Aufmerksamkeit, der Spendenzweck ist oft eher zweitrangig und manchmal sogar obskur. Wenn man um Spenden wirbt, ist das immer mit Kosten verbunden. Aber wenn der Aufwand eine gewisse Relation übersteigt, ist für mich der Zweck nicht erreicht. Bei professionell spendenwerbenden Organisationen sollten zumindest 75 Prozent wirklich in die Projekte gehen.

Vogel: Gewisse Ausgaben muss man natürlich einplanen. Denn wenn 100 Prozent der Spenden direkt an die Bedürftigen gehen, kann man einen Freiwilligen beschäftigen, der Schecks unterschreibt, aber dann fehlen professionelle Planung, Qualitätssicherung, Konzeptualisierung, professionelle Arbeit.

Was bedeutet die neue Brics-Bank für die Zukunft der EZA?Vogel: Schon das Auftreten von China als internationaler Akteur hat einiges durcheinandergebracht. Der Westen war sich schnell einig: Die unterlaufen die Standards, schmeißen Geld auf den Markt, wollen nur Rohstoffe, kooperieren mit jedem Regime. Andererseits wurde das westliche Monopol erstmals herausgefordert, plötzlich war eine Alternative da. Die afrikanischen Staaten konnten sagen: Okay, jetzt suchen wir’s uns aus. Ich denke, Konkurrenz belebt das Geschäft. Und ich finde es immer gut, wenn Hilfsempfänger zu mitgestaltenden Akteuren werden. Selbst wenn man Altruismus ganz ausblendet, kann es sich die Welt nicht leisten, nicht in EZA zu investieren, weil unser Wirtschaftssystem abnahmefähige Märkte und kaufkräftige Kundschaft braucht. Unserer eigenen Wirtschaft tut es nicht gut, wenn am anderen Ende der Welt Schmutzeimerchen von Massenarmut herumstehen, wo Leute sich nicht leisten können, Klimaverantwortung zu übernehmen, an einer Lösung des Ernährungsproblems mitzuarbeiten und ihr einziges Heil in der Flucht nach Europa sehen.

Zu den Personen

Friedbert Ottacher (l.)

ist freiberuflicher Berater, Trainer und Autor, war Programmreferent unter anderem bei Care, Licht für die Welt und Horizont3000. Er lehrt an der Uni Wien und der TU Wien über die Praxis der EZA.

Thomas Vogel (r.)

ist Bereichsleiter Programme und Projekte bei Horizont3000 und lehrt ebenfalls an der Uni Wien und der TU Wien. Fotos:Moritz Ziegler