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"Wir sind eine spezielle Klasse"

Von Valentine Auer

Politik
Im Projekt "Interkulturelles Mentoring" betreuen 24 Mentoren in ganz Wien Schulkinder aus verschiedenen Kulturen.
© Stanislav Jenis

In zehn Schulen dienen interkulturelle Mentoren den Kindern als Stütze und als Vorbilder. Ein Besuch.


Wien. 7.45 Uhr, Volksschule Gaullachergasse 49 im 16. Bezirk. Viele Kinder sind schon putzmunter und erzählen aufgeregt vom vergangenen Tag. Von den Eltern verabschieden sich die sechs- bis zehnjährigen Kinder in verschiedenen Sprachen. Betritt man das Gebäude, wird man von bunten Schildern mit "Merhaba", "Dobrodosli", "Shagatom" "Mirë se vini"; "Bitaemo" und "Herzlich Willkommen" begrüßt. Die Volksschule Gaullachergasse ist eine von zehn Schulen in Wien, die am Projekt "Interkulturelles Mentoring" teilnimmt.

Interkulturelle Vielfalt ist nicht nur in dieser Schule sichtbar, sondern in ganz Österreich - und vor allem Wien. Im vergangenen Schuljahr sprachen laut Statistik Austria 21 Prozent aller Schüler in Österreich eine andere Umgangssprache als Deutsch, allein in Wien waren das 102.682 Kinder und Jugendliche. Ein hoher Anteil von Schülern mit einer anderen Umgangssprache als Deutsch findet sich vor allem in Wiener Volksschulen. In vielen Bezirken spricht mehr als die Hälfte der Volksschulkinder in ihrem Alltag überwiegend nicht Deutsch, im 16. Bezirk sind es circa 80 Prozent.

In der Klasse 3B der Volksschule Gaullachergasse sind 16 der 18 Kinder, denen gerade die Klassenlehrerin in der ersten Unterrichtsstunde den Unterschied zwischen "ß" und "ss" erklärt, geprägt von verschiedenen Migrationsgeschichten. Verschiedene Sprachen und Nationen treffen im Klassenzimmer zusammen. Einige Kinder kamen mit ihren Eltern erst vor kurzem nach Wien, andere wiederum sind hier geboren.

Inmitten der Kinder sticht eine erwachsene Person heraus. An den kleinen Tischen sitzend, wirkt das Bild auf den ersten Blick erheiternd - sieht man ihn mit den Kindern arbeiten, fügt er sich jedoch schnell perfekt ins Klassenbild ein: Die Rede ist von Ilija Kugler. Er ist einer der 24 in Wien tätigen Mentoren des Projektes "Interkulturelles Mentoring an Schulen". Kugler wurde in Kroatien geboren, er kam mit fünf Jahren nach Österreich. Damals verschlug es ihn und seine Familie nach Braunau, wo er seine Kindheit verbrachte. Heute studiert er Kultur- und Sozialanthropologie sowie Soziale Arbeit in Wien und ist mittlerweile seit fast drei Jahren als Mentor tätig. "Es macht einfach Spaß", lautet seine Motivation für die Mentoren-Tätigkeit.

Mentoren dienen als Vorbilder

Das 2010 gestartete Mentoren-Projekt nimmt kulturelle und sprachliche Vielfalt als eine wertvolle Erweiterung wahr. Ein- bis zweimal in der Woche besuchen Studierende mit ähnlichen sprachlich-kulturellen Hintergründen wie die Schüler "ihre Klassen" und unterstützen die Kinder im Schulalltag. Derzeit sind im Rahmen des Projektes 27 Mentoren aktiv, drei davon besuchen regelmäßig Schulen in St. Pölten. Der Rest ist in Wien stationiert.

"Ilija, kannst du kurz kommen?", hört man immer wieder von den Kindern durch das Klassenzimmer rufen. Die zweite Unterrichtsstunde hat begonnen, die Kinder der 3B tüfteln an Rechen-Aufgaben. Gerade im Mathematik-Unterricht sind Ilija Kuglers Bosnisch/Kroatisch/Serbisch-Kenntnisse von Vorteil: "Da die Zahlen im Kroatischen anders als im Deutschen funktionieren, ist Rechnen für manche Kinder auf Deutsch verwirrend. Wenn ich die Zahlen in der Muttersprache erkläre, wird es für sie verständlicher." Aber auch in anderen Fächern können durch die Anwesenheit des Mentors kleine Probleme aufgrund von Sprachbarrieren sehr schnell gelöst werden.

Gleichzeitig bestärkt Ilija Kugler die Schüler in ihrer eigenen Mehrsprachigkeit. Er will ihnen zeigen, dass keine Sprache negativ behaftet sein sollte und dass das Beherrschen mehrerer Sprachen ein Vorteil, eine gefragte Fähigkeit ist. Dass er dies schafft, bestätigt die Klassenlehrerin Romana Radaszkiewicz. Sie erinnert sich an die Aussage eines Mädchen, die den Mentor als Vorbild sieht: "Ein Mädchen sagte zu mir: ,Wenn ich groß bin, Romana, will ich werden wie Ilija, weil er perfekt meine Sprache und perfekt Deutsch spricht, gut Englisch kann und sich bei allem auskennt.‘ Das kam von einem Mädchen, das lernschwach, aber sehr ehrgeizig ist." Die Mentoren sind als Erwachsene zwar eine Autoritätsperson, gleichzeitig besitzen sie jedoch nicht die Autorität eines Lehrers oder einer Lehrerin. Die Beziehung zu den Kindern geht daher weit über die Unterstützung beim Lernen hinaus, erzählt Romana: "Ilija ist ihnen extrem wichtig, nicht nur, was das Lernen betrifft, sondern auch menschlich. Er ist nicht nur ein Lehrer, sondern ein Freund." Natürlich ist Ilija nicht ausschließlich in den typischen Lernfächern wie Deutsch oder Rechnen gefragt.

Akademischer Hintergrund wirkt inspirierend

"Ilija, schau mal!", ruft ein Kind begeistert in der Turnstunde, während es mit Tüchern jonglierend über eine Wippe balanciert. Die Kinder suchen seine Aufmerksamkeit, kommen mit Fragen abseits des Lernstoffes zu ihm. Oft beziehen sich diese Fragen auf das Herkunftsland der Kinder, sie wollen mehr über die Geschichte wissen, wo das Land liegt, was gerade dort passiert.

Der akademische Hintergrund der Mentoren beeinflusst die Kinder positiv und wirkt inspirierend, erzählt Ilija Kugler: "Viele Kinder kommen aus sozioökonomisch schwachen Familien und wissen oft gar nicht, was es für unterschiedliche Berufsmöglichkeiten gibt. Hier hilft es, dass ich studiere und gleichzeitig - wie die Kinder auch - aus einer Migranten-Familie komme." In persönlichen Gesprächen hat er die Möglichkeit, den Kindern einen Einblick in "seine Schule" und in die universitäre Welt zu geben. Die Verbindung seines akademischen und kulturellen Hintergrunds zeigt den Kindern, dass ihnen später verschiedene Möglichkeiten offenstehen.

Das Projekt "Interkulturelles Mentoring" betrachtet kulturelle und sprachliche Vielfalt in Wiens Klassenzimmern als positives Faktum, Mehrsprachigkeit wird als wichtige Ressource wahrgenommen. Die Kinder werden nicht nur beim Deutsch-Sprechen unterstützt, sondern ihre eigenen Sprachkenntnisse werden als wertvolle Fähigkeit erkannt. "Wir sind eine spezielle Klasse!", ruft ein Junge der 3B mit frechem Grinser, aber nicht ohne Stolz durch den Raum, nachdem die Lehrerin die gesamte Klasse in der Deutsch-Stunde lobte. Er hat verstanden, dass diese "Spezialität" etwas Positives darstellt.