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"Was man spürt, gibt man weiter"

Von Ina Weber

Politik
Lehrerin Julia Ebert (links unten) mit ihren Schülern, den Kindern der Lerngruppe B der Volksschule in der Kindermanngasse in Hernals.
© Stanislav Jenis

Frau Lehrerin, wie war Ihr Jahr? Zu Besuch in einer Volksschule im 17. Bezirk.


Wien. Sie ist eigentlich nett gelegen, doch entspricht sie räumlich den meisten Schulen in Wien. Abgenutzt, Garderoben am Gang oder im Keller - kaum eine Volksschule in Wien, die nicht aus allen Nähten platzt - weit entfernt von coolen, modernen Büros mit grünen Sofas und Designer-Regalen, die die Stadt auch so gerne vorstellt, wo die Jungen einmal kreative Ideen entwickeln und die Wirtschaft antreiben sollen.

Steintreppen, weiße Wände, da und dort eine Bilder- oder Fotowand. Tixo, Nagel, Klebeband - man hilft sich mit allem, was man zur Verfügung hat. Die Lehrer - heiß diskutiert in den vergangenen Monaten. Hart dran gekommen mit des Bürgermeisters Michael Häupls (SPÖ) Worten. Wenn er Lehrer wäre: "Dienstag Mittag bin ich fertig."

Es ist Donnerstag und Julia Ebert begrüßt wie jeden Tag um 7.45 Uhr Früh ihre 25 Kinder der Lerngruppe B in der Kindermanngasse im 17. Bezirk. Ein großer heller Klassenraum, zwei Computerplätze, eine Couch, die kleinen Tische und Stühle zu Inselgruppen zusammengestellt. Drei Eulen sitzen auf der Couch, drei Eulen zieren die Eingangstür. Das Klassentier ist offensichtlich. Auf einer Miniaturstaffel unter der Tafel liegt - wie ein heiliges Buch - die "Geschichten vom Franz" von Christine Nöstlinger.

Die Lehrerin wählt ein Kind aus, das nach vorne kommt und einem anderen zuzwinkert, welches dann ebenfalls in die Mitte kommt und wieder einem Kind zuzwinkert. "Schau mich mal an. Leise sein", hält Ebert die energiegeladenen Kinder im Zaum. Hannah holt die Stoff-Eule aus ihrem Nest. Sie soll beim Morgenkreis dabei sein. Nächstes Ritual: Ein Kind malt einem anderen mit den Fingern ein Zeichen - das Morgenzeichen - auf den Rücken. Das Zeichen wird dem nächsten Rücken weitergegeben. "Was man spürt, gibt man weiter", ermutigt die Lehrerin jene, die nicht genau verstehen, was sie da auf ihrem Rücken spüren. Einige sitzen im Schneidersitz und ahmen die Meditationspose nach. Andere legen ihre Köpfe auf den Teppich. "Wir haben heute gleich zwei Geburtstage zu feiern", so die Lehrerin.

Die Kindermanngasse legt ihren Schwerpunkt auf offenen Unterricht. Die Volksschule war eine der ersten öffentlichen Schulen in Wien, die vor mehr als 20 Jahren mit der Montessori-Pädagogik begonnen hat. Mittlerweile haben schon viele Schulen in Wien einen montessorischen Einschlag.

Ebert arbeitet seit 18 Jahren an dieser Schule. Sie sieht sich als Montessori-Klasse mit Einschränkung: "Ich mache so viel Montessori wie es in einer Regelschule möglich ist", sagt sie. Es findet bis zur 4. Klasse differenzierter Unterricht statt, erst im letzten Jahr gibt es dann Schularbeiten.

Nora hält die Eule am Arm, als sei sie eine echte. Das Mädchen mit den blonden langen Haaren und der grauen Weste hält den Arm ausgestreckt, mit der zweiten Hand hält sie die Stoffkrallen auf ihrem Westenärmel fest. Das Geburtstagslied verklingt und der gefeierte Bub kramt in einer Kiste. "Wenn Du Dich jetzt nicht entscheiden kannst, dann kannst du in der Pause weiterschauen", so die Lehrerin. "Wer etwas an sich hat, das lila ist, darf aus dem Morgenkreis gehen. Wer etwas Blaues hat, darf gehen." Schließlich sitzen alle Kinder auf ihren Plätzen und die Morgenarbeit beginnt, eine Zeit, in der sie individuell in ihren Heften und Büchern konzentriert arbeiten.

"Montessori heißt nicht, dass jeder machen kann, was er will. Es gibt klar definierte Grenzen. Es soll nicht langweilig sein, aber auch nicht überfordernd", sagt sie. Die Kinder lernen, selbständig zu arbeiten und sich einzuschätzen. "Sie müssen viele Entscheidungen treffen und das schon in der 1. Klasse: Mit wem will ich arbeiten, was möchte ich machen."

Keine fixen Pausen, keine Ansagen, keine Rechenproben. Die Hausübungen suchen sich die Kinder selbst aus. So wie sie in der Arbeitszeit selbst bestimmen können, womit sie sich gerade beschäftigen wollen. "Kinder haben sensible Perioden, in denen sie auf gewisse Dinge ansprechen", erklärt die Lehrerin. "Ich schau’, dass sie bis Semesterende die Lehrplanziele erreicht haben. Bis jetzt ist es sich immer ausgegangen", sagt Ebert.

Die Schüler werden unruhig. Die Lehrerin entscheidet: Es ist Zeit für eine Pause." Auch in ihrer Pause ist Ebert für die Kinder da. Sie schneidet die Geburtstagstorte an, verteilt sie, kümmert sich um ein Mädchen, das Bauchweh hat, schlichtet einen Streit zwischen zwei Buben. "Wenn man es gut machen will, ist jeder Tag eine Herausforderung", so die Lehrerin. "Die Kinder sind heute bei ihren Eltern oft der Mittelpunkt des Universums. Das ist schön, hat aber auch negative Auswirkungen, die wir Lehrer in der Schule mitbekommen. Die Kinder können nicht mehr warten, sind ungeduldig, haben viel öfter als früher psychosomatische Probleme wie Kopf- oder Bauchweh. Lehrer, die es gut machen wollen, sind für diese Kinder da. Da geht es um viel mehr als um Lernstoff."

Julia Ebert schwingt die Rassel. Die Pause ist zu Ende. "Ihr habt jetzt das Glück, dass ihr Freiarbeit machen dürft. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr eine Geschichte schreibt, euch eine Kartei oder ein Rechenmaterial aussucht." Die Kinder überlegen nicht lang und suchen sich eine Beschäftigung. Alle paar Minuten kommt ein anderes Kind und bittet Ebert um Hilfe. Die Lehrerin lässt kein Kind aus den Augen und hilft ihnen bei ihren Entscheidungen.

Wenn um 13 Uhr der Unterricht vorbei ist, beginnt für Ebert die Arbeit ohne Kinder - sie ordnet das Material in der Klasse, korrigiert die Arbeiten der Kinder, bereitet die nächsten Tage vor, schreibt Mitteilungen für die Eltern und füllt vorgegebene Leistungsbögen über die Schüler aus. "Lehrer sein hat mit Berufung zu tun", sagt sie. Und obwohl sie oft an die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit kommt, ist der Beruf für sie eine Freude, die sie weitergibt. "Das Wichtigste für die Kinder ist, dass sie lernen, sich im Schulsystem zu organisieren, Kulturtechniken erwerben und die Freude nicht verlieren."

Obwohl den Schülern "das Arbeiten" Spaß macht, freuen sie sich schon auf die Ferien. Die siebenjährige Judith freut sich darauf, mit ihren Cousins zu spielen. An der Schule liebt sie Buchstaben und Schreibschrift. Der siebenjährige Nikola, der die Ziffer 10 in seinem Haar hineinrasiert hat - wegen des Fußballers Messi, wie er stolz erklärt - freut sich aufs Fußballspielen im Park. Der siebenjährige Franz liebt den letzten Schultag, weil er dann eine Uhr bekommt. Und die Lehrerin? "In den Sommerferien tanke ich wieder neue Energie, stelle Materialien für den Unterricht her und verbringe Zeit mit meiner Familie." Zwei Wochen macht sie Urlaub in Kärnten und Italien. "Das ist dann die Zeit, wo ich ganz abschalten kann."

In Wien gibt es rund 250 öffentliche Volksschulen. Fast alle dieser Schulen bieten auch offenen Unterricht an. Das heißt, dass es in vielen Klassen keinen Frontalunterricht mehr gibt, sondern die Kinder selbständig verschiedene Aufgabenstellungen lösen müssen. Es geht um Differenzierung und Individualisierung. Viele Schulen unterrichten nach reformpädagogischen Methoden wie etwa Montessori oder Frenet. Dabei werden keine Noten vergeben, sondern eine Lernfortschrittsdokumentation (LFD) erstellt.

Aufgrund der Pisa-Studien der OECD - internationale Schulleistungsuntersuchungen - werden an Wiens Schulen regelmäßig Überprüfungen durchgeführt. Die Tests erfolgen immer an unterschiedlichen Schulen. Auf Bundesebene gibt es weiters die Bildungsstandards, bei denen unterschiedliche Schwerpunkte überprüft werden. Darüber hinaus gibt die Stadt Wien den Wiener Lesetest in den 4. Volksschulklassen vor. Jedes Jahr werden rund 16.000 Kinder getestet. Empfohlen wird von der Stadt Wien weiters der Buchstabentest.