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"Die Menschen verlieren hier ihre Würde"

Von Siobhán Geets

Politik
© Markus Mantsch

Fünf Porträts von Menschen, die es bis nach Österreich geschafft haben.


Traiskirchen/Wien. Mehr als 2600 Flüchtlinge lebten Mitte August im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen - rund 1000 davon in Zelten, 450 waren obdachlos. Die "Wiener Zeitung" sprach mit sechs Asylsuchenden über ihre Fluchtgründe, die lange Reise und ihre Hoffnungen auf ein Leben in Frieden.

Jaffer, 14, seit drei Monaten in Traiskirchen

Ich komme aus Afghanistan, aber aufgewachsen bin ich in Parachinar, Pakistan, wohin ich mit meiner Familie vor der Gewalt in Afghanistan geflohen bin. Ich habe sieben Schwestern, als einziger Sohn bin ich die ganze Hoffnung meiner Familie.

Mein Vater hatte eine Bäckerei, aber die wurde wie viele andere Geschäfte und Gebäude zerstört, nachdem die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten eskalierten. Eines Tages auf dem Weg zur Schule wurden wir von maskierten Männern angehalten. Sie eröffneten das Feuer, ich wurde von vier Kugeln getroffen, die in meinen Beinen stecken blieben. Drei davon holten die Ärzte wieder heraus, eine steckt bis heute in meinem Unterschenkel. Ich war sehr lange im Krankenhaus, es dauerte ein Jahr, bis ich wieder gehen konnte.

Als es mir wieder besser ging, beschlossen meine Eltern, mich fortzuschicken. Sie setzen viel Hoffnung in mich, denn ich bin der Einzige, der später für sie sorgen kann. Die Erhaltung der Familie liegt in der Verantwortung der Männer.

Ich war einen Monat und 22 Tage unterwegs. Von Pakistan in den Iran, danach weiter in die Türkei. Man weiß nie, wer die nächste Etappe der Flucht organisiert, die "Bosse" wechseln ständig. In der Türkei verbrachte ich zwei Tage in einem Lager, das war wie ein Gefängnis. Sie brachten mich mit anderen Burschen in meinem Alter zum Meer, wir hatten ein Schlauchboot, aber der Motor funktionierte nicht. Nach zwei Stunden sprang er endlich an und wir fuhren Richtung Griechenland, die Polizei erwischte uns vor der Küste. Die griechischen Behörden händigten uns ein Dokument aus und sagten, wir hätten drei Tage Zeit, das Land zu verlassen.

In Österreich ließen sie uns im Wald aus dem Auto. "Ihr seid jetzt frei", sagte der Boss. Wir hatten nicht gesehen, wo er uns hinbrachte, der Lkw hatte keine Fenster. Wir waren hungrig und hatten Durst. Wenig später kam die Polizei und brachte uns auf die Wache. Sie stellten viele Fragen: Wo wir herkommen, was wir hier wollen. Ich verbrachte zwei Tage in Haft, dann kam ich nach Traiskirchen. Das war vor drei Monaten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wir hier leben. Wie die Tiere, noch schlechter als Tiere. Ich wünsche mir, dass ich verlegt werde, weg von Traiskirchen. Ich hoffe, dass meine Familie nachkommen kann.

Früher spielte ich gern Fußball und trainierte Karate, aber mein größter Wunsch war immer schon, Rockstar zu werden. Ich liebe traurige Musik. Als ich in Islamabad zur Schule ging, gab es einen Liederwettbewerb. Ich trat an und sang vor 20.000 Menschen. Ich war total nervös, aber ich schaffte es, mir den Text zu merken und fehlerfrei zu singen. Als sie verkündeten, dass ich gewonnen hatte, dachte ich, ich träume.

Ich spreche Farsi, Pashtun, Urdu und Englisch. Als Nächstes möchte ich Deutsch lernen. Wenn man die Sprache kann, ist jedes Problem lösbar.


Dalir, 22, und seine Mutter Tahmineh, seit zwei Monaten
in Traiskirchen

© Markus Mantsch

Meine Mutter und ich sind aus dem Iran hergekommen. Meine Mutter hatte einen Friseur- und Schönheitssalon, ich ging zur Uni. Mir fehlen noch zwei Semester zum Abschluss als Zivilingenieur.

Nachdem mein Vater, der seit ein paar Jahren in Australien lebt, zum Christentum konvertierte, haben wir Probleme mit den Leuten in unserem Dorf bekommen. Auf der Uni hatte ich es auch nicht leicht. Man darf nie über Religion sprechen, das gibt Probleme. Diese Männer mit den Bärten, man nennt sie die Islamische Religionspolizei, kontrollieren die Studentinnen und Studenten. Wenn eine zu viel Haar zeigt oder ihnen dein Bart nicht passt, dann schadet das der universitären Karriere, man bekommt plötzlich die nötigen Dokumente und Prüfungszeugnisse nicht mehr. Nachdem eine Freundin, die auch konvertiert ist, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden war, bekamen wir es mit der Angst zu tun und entschieden uns zur Flucht. Freunde sagten uns, dass Österreich ein gutes Land ist und die Menschen hilfsbereit, dass wir dort Frieden finden würden. Wir glaubten ihnen.

Meine Mutter flog in die Türkei, während ich im Iran festsaß, weil ich zur Armee eingezogen werden sollte. Wer noch nicht gedient hat, bekommt keine Reisedokumente. Ich war gezwungen, den gefährlichen Landweg zu nehmen. Ein Freund von mir ist dabei gestorben, er wurde erschossen, aber was sollte ich tun? Ich entschied mich, das Risiko einzugehen, anstatt zu bleiben und in ständiger Todesangst zu leben.

Zu Fuß ging es über die Berge vom Iran in die Türkei, wo ich meine Mutter traf. Mit dem Auto und einem Boot gelangten wir schließlich nach Griechenland. Wir fuhren in einem Transporter weiter. Darin waren 52 Menschen eingepfercht, wir konnten kaum atmen. Einmal, das war in der Türkei, schoss ein Mann vom Straßenrand aus auf unser Auto. Eine Kugel traf einen von uns in die Kehle und tötete ihn. Eine weitere flog knapp an meiner Mutter vorbei, streifte sie am Scheitel. Die Flucht war nicht leicht für meine Mutter. Wir waren mehr als 40 Tage unterwegs, schliefen oft in Parks oder auf der Straße, es war kalt und wir mussten uns nächtelang zu Fuß durch die Wälder schlagen. Einmal sind wir von der Grenzpolizei weggelaufen.

Ich bin nicht derselbe, der ich im Iran war. Ich habe viel Schlimmes erlebt, aber ich denke, dass man ohne Schwierigkeiten auch nicht weiterkommt, sich nicht entwickeln kann. Heute habe ich keine Angst mehr vor dem Leben.

In Österreich gibt es viele hilfsbereite Menschen, die uns Sachen bringen. Ich kann nicht mitansehen, wie die Flüchtlinge sich auf die Autos mit den Hilfsgütern stürzen. Das liegt nicht an ihrer Kultur, sondern daran, dass sie hier ihre Würde verloren haben. Die Menschen haben Hunger, in so einer Situation verliert man seine Würde. Das Essen hier ist grauenhaft, deshalb stürzen sich die Leute so auf die Autos.

Meine Mutter arbeitet im Lager, sie hilft beim Putzen und bekommt dafür drei Euro die Stunde. Sie sagt, den Sicherheitsleuten sind wir egal, sie haben keinen Respekt vor uns. Den Frauen im Lager geht es besonders schlecht, sie haben nie Ruhe. Wenn sie eine Familie haben, dann ist es etwas besser. Am schlimmsten ist es für alleinstehende, junge Frauen.

Ahmad, 26, seit einem Monat in Traiskirchen

Ich bin mit meinem Bruder und einem Cousin hergekommen. Ich habe in Aleppo Bank- und Finanzwirtschaft studiert. Gefährlich wurde es für mich, weil die Polizei nach mir suchte, ich habe die Rebellen unterstützt, ihnen Essen gebracht.

Ich konnte nicht zurück zu meiner Familie, denn der IS belagerte meine Heimatstadt. Zum Glück bekam ich ein türkisches Stipendium, ich konnte in Nordzypern studieren und meinen Abschluss machen. Als mein Visum auslief und klar wurde, dass ich Zypern verlassen musste, bekam ich es mit der Angst zu tun, denn in Syrien sollte ich zum Heer eingezogen werden. Wäre ich nach Hause zurückgekehrt, hätte ich entweder für den IS kämpfen müssen - oder für den Staat. Ich beschloss, nach Europa zu fliehen.

Meine Mutter und meine Schwester sind noch in unserem Heimatort. Als der IS in die Stadt kam, töteten sie zuerst die Flüchtlinge, die gekommen waren, als unsere Stadt noch sicher war und unter der Führung der Rebellen stand. Der IS schloss alle Schulen und Universitäten. Die Männer dürfen sich nicht mehr rasieren und während der Gebetszeiten müssen alle Geschäfte geschlossen bleiben. Ist eine Stadt einmal eingenommen, ist es sehr schwer, aus ihr herauszukommen. Man braucht die Erlaubnis des IS und muss Geld zahlen. Will man in die Türkei, verlangen sie einen hohen Pfandbetrag, den man nur zurückbekommt, wenn man wiederkommt.

Meine Cousins sind vom IS rekrutiert worden. Der IS ist sehr erfolgreich bei jungen, beeinflussbaren Männern. Jetzt kämpfen meine Cousins im Irak. Mein Onkel weint täglich, er sagt, sie haben seine Söhne einer Gehirnwäsche unterzogen.

Ich bin gegen den IS, ich bin aber auch gegen Assad. Aleppo war lange Zeit eine Sicherheitszone. Ich sammelte Spenden und half damit den Flüchtlingen, die in die Stadt strömten, kaufte Essen, Öl, Decken und Matratzen. Dem Assad-Regime gefällt das nicht, es will die Leute hungrig haben, denn hungrige Menschen wehren sich nicht. Für uns war Religion nie wichtig, man fragt nicht danach. Ich habe einen Freund, von dem wusste ich jahrelang nicht, dass er Christ ist. Religionen sind nicht der Grund für den Krieg. Die Wut richtet sich gegen das Regime.

Als ich studierte, hatte ich eine Freundin. Ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten möchte, sie hat Ja gesagt. Meine Verlobte studierte in Italien, kehrte aber nach Syrien zurück, um einige fehlende Kurse in unserer Heimatstadt zu belegen. Von ihrem Tod erfuhr ich über Facebook, dort werden Listen mit den Namen der Opfer veröffentlicht. Meine Verlobte ist jetzt ein weiterer Name auf der Opferliste des Regimes. Ich war gerade in Zypern, ich hatte sie davor gewarnt, nach Hause zurückzukehren.

Damals war die Stadt in der Hand der Rebellen. Regierungstruppen erschossen meine Verlobte an einer Straßensperre. Ich frage mich nicht, warum. Ich denke, darauf gibt es keine Antwort.

Athraa, 24, seit einem Monat in Traiskirchen

© Ines Mahmoud/Markus Mantsch

Bis vor zwei Monaten lebte ich mit meiner Mutter und meinen Schwestern in Mossul, Irak. Mein Vater ist schon einige Jahre tot.

Ich war gerade bei einer Freundin, als ich einen Anruf von unserem Nachbarn bekam. Völlig aufgelöst erklärte er mir, dass der IS meine Familie entführt und unser Haus auf den Kopf gestellt hatte. Wir sind zwar Moslems, haben aber einen christlichen Namen. Ich lief nach Hause und musste feststellen, dass er recht hatte: Meine Mutter und meine drei Schwestern waren fort, unsere Einrichtung zerstört. Wenige Tage später kamen die Kämpfer wieder und nahmen das Haus als Stützpunkt ein.

Ich versteckte mich bei Freunden. Über einen Arzt, der Kontakte zum IS hatte, versuchte ich, meine Familie zu befreien. Aber ich konnte nichts erreichen, zudem suchten sie mittlerweile auch nach mir. Nachdem der IS Mossul eingenommen hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach Bagdad. Ich ging drei Tage lang, für den Rest des Weges nahm ich ein Taxi. Doch auch in Bagdad war ich nicht sicher. Weil ich aus Mossul kam, dachten viele, ich würde für den IS arbeiten. Also beschloss ich, den Irak zu verlassen.

Ich weiß bis heute nicht, was mit meiner Mutter und meinen Schwestern passiert ist. Ich habe auch keinen Kontakt zum Rest meiner Familie in Mossul. Mein sehnlichster Wunsch ist, dass meine Familie am Leben ist. Dass ich sie wieder sehe und sie nach Österreich kommen können.

Elham, seit zwei Wochen in Traiskirchen

Ich bin alleine mit meinen drei Töchtern aus dem Irak geflohen, sie sind sechs, acht und zehn Jahre alt. Ab der Türkei hat die Reise insgesamt 15.000 Euro gekostet. Vor zwei Jahren ist meine Älteste bei der Explosion einer Autobombe in Bagdad schwer verletzt worden. Sie wurde vier Mal operiert und bekam Hauttransplantationen, aber es geht ihr immer noch sehr schlecht.

Es gibt viele Gründe, warum ich den Irak verlassen habe. Die Verletzungen meiner Tochter sind einer davon. Mein Mann hat sich nicht um sie gekümmert, er hat sich sogar geweigert, unsere Tochter ins Krankenhaus zu bringen. In einem Monat soll sie in Wien operiert werden. Ich mache mir große Sorgen, weil ich bei meiner Tochter im Krankenhaus sein will, dann aber meine anderen Kinder alleine im Lager lassen muss. Meine Tochter braucht Physiotherapie, damit sie ihren Arm wieder bewegen kann. Auf der ärztlichen Überweisung steht: "Unbeweglicher Ellenbogen nach Bombenexplosion. Großflächige Verbrennungen am Bauch, an der Hüfte und an beiden Oberschenkeln."

Während der Flucht habe ich furchtbare Dinge gesehen. Einmal ist ein Mann von einem völlig überfüllten Bahnsteig auf die Gleise gefallen und vom Zug erfasst worden. Ich hoffe, die Mädchen haben keinen zu großen Schaden von der langen Reise genommen. Ich hoffe, dass meine Töchter es in Zukunft besser haben. Sie sollen eine Chance haben, in die Schule gehen. Ich wünsche mir ein neues Leben in Österreich. Jenes zu Hause gibt es nicht mehr.