Zum Hauptinhalt springen

Pädagogik im Aufbruch

Von Alexandra Grass

Politik

Der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther über Schule, Zwang und den Ausweg aus der Krise.


"Wiener Zeitung":Wie lässt sich das Verhältnis Schule und heutige Gesellschaft darstellen?Gerald Hüther: Hier eine sehr böse Antwort: Für diese Konsumgesellschaft, wie wir sie heute haben, ist Schule, so wie sie heute stattfindet, genau richtig. Sie bringt Menschen hervor, die mit ihrem Leben und ihren Gestaltungsmöglichkeiten hinreichend unzufrieden und dadurch sehr anfällig für die Angebote der Industrie, Medien und Politik sind. Das Ungünstige an dieser Art von Schule ist, dass sich die Kinder nicht weiterentwickeln können. Doch die Zukunftsaufgaben, die vor uns stehen, lassen sich nur lösen, wenn Kinder in ihrer eigenen Kraft sind. Derzeit zeigt sich Schule hingegen als Erfüllungsgehilfe einer Ersatzbefriedigungsindustrie. Wenn die Lust am Lernen, Entdecken und gemeinsamen Gestalten erhalten bleibt, dann haben die Kinder Gestaltungskraft und gelernt, wie man sich in einer komplexen Welt zurechtfindet. Das sind dann diejenigen, die geeignet sind, das Leben im 21. Jahrhundert und damit unsere Zukunft zu gestalten.

Wie geht Lernlust verloren?

Es ist die extrinsische Motivation - Belohnung oder Bestrafung -, die dazu führt, dass die intrinsische Motivation kaputtgeht. Biete ich einem Kind die Möglichkeit, den Lernprozess mitzugestalten, bleibt die Lust erhalten. Ist Lernen erzwungen, wirkt sich das negativ aus. Kindern wird beigebracht, wie man gute Noten bekommt, wie man sich trotz Schulpflicht noch ein einigermaßen gutes Leben machen kann. Und wir versuchen zu messen, welches Wissen nach zehn bis zwölf Jahren Schulzeit übrig bleibt. Die Optimisten schätzen zehn Prozent, realistischer sind zwei Prozent. Da ist fast nichts nachhaltig im Gehirn verankert. Aber eines bestimmt: dass Lernen keinen Spaß macht. Das ist das Schlimmste, das man in einer Bildungseinrichtung erreichen kann.

Das Wort Schulpflicht scheint dann wohl eine unpassende Formulierung zu sein.

Es passt zur Einstellung der meisten Menschen, die Lernen und Arbeit als Pflicht betrachten. Doch solange die Erwachsenen das tun, werden auch Kinder das Lernen als lästige Pflicht betrachten, für die es dann Belohnungen oder bei Nichterfüllung entsprechende Strafen gibt. Das ist fatal.

Die frühkindliche Förderung wird immer häufiger und zeitlich immer länger in öffentliche Einrichtungen ausgelagert. Macht es Sinn, die Eltern von der Verantwortung zu entbinden?

Tatsache ist, dass es immer mehr Eltern gibt, die das Bedürfnis, für ihr Kind eine gewisse Zeit lang da zu sein, nicht verspüren. Vermutlich auch aus Angst, dass sie selbst in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden, wenn sie aus dem Beruf aussteigen. Wir leben in einer extrem gesteigerten Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, in der kein Platz mehr für Menschen ist, die sich auch noch anderen Aufgaben widmen wollen. Wenn Kinder sehr früh lernen, mit Gleichaltrigen zurechtzukommen, scheint das auf den ersten Blick sozialisierungsfördernd. Sie entwickeln eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit. So wird die Art und Weise, wie wir im Augenblick zusammenleben, stabilisiert: konkurrenz-, leistungs- und karriereorientiert. Immer schauend, wie man andere für seine Zwecke benutzen kann oder wie man seine eigenen Interessen in einer Gemeinschaft durchsetzen kann. Dafür werden die Kinder in diesen Einrichtungen gut vorbereitet. Wenn wir da etwas ändern wollen, müssten wir die Bedeutung von Elternschaft ins Bewusstsein zurückbringen. Haben Eltern ein starkes Interesse daran, dass ihr Kind sich nicht an anderen orientiert, Eigensinn und ein Gefühl für die Bedeutung der eigenen Person entwickelt, ist der enge emotionale Kontakt zu ihnen Voraussetzung.

In Schweden ist das Modell der Väterkarenz stark verankert. Welche Bedeutung hat dies für die Entwicklung des Kindes - und des Mannes?

Dort haben die Unternehmen erkannt, dass ein Mann nach einem Elternurlaub als wertvollerer Mitarbeiter zurückkommt. Die Väter lernen in dieser Zeit mit dem Kind, wie man später im Job eine andere Person einlädt, ermutigt und inspiriert, die in ihm angelegten Fähigkeiten auch einzusetzen und seine Talente und Begabungen zu fördern. Das ist genau das, was die Väter mit ihren Kindern tun. Diese Erfahrungen verdichten sich im Gehirn zu einer Haltung. Der Mitarbeiter zeigt sich offener, toleranter, verständnisvoller und liebevoller. Es gibt also zwei Argumente, warum Kinder von ihren Eltern erzogen werden sollen. Erstens, weil die Kinder sich als Subjekte erleben und nicht zu konditionierten, auf den Umgang mit anderen ausgerichteten Personen werden, die sich immer wieder an den anderen orientieren. Das zweite ist, dass Eltern in einer Weise davon profitieren, wie man das durch betriebliche Fortbildungsprogramme gar nicht erreichen kann. Langfristig kann hervorragende Leistung nur erzielt werden, wenn man diese besonderen Eigenschaften in den Job mitbringt.

Dann gibt es also Handlungsbedarf seitens der Wirtschaft?

Auch die Wirtschaft kann nicht gezwungen werden, es muss sich das Bewusstsein ändern. Wenn Unternehmen zulassen, dass ihre Mitarbeiter Mama und Papa "spielen", dann bräuchten wir nicht mehr so viele Kinderkrippen. In Schweden ist das schon gewachsen. In Österreich und Deutschland zeigen sich eine stärkere Leistungsorientierung und eine gewisse Kurzsichtigkeit in dem, was wir tun. Vielleicht muss man in einem skandinavischen Land, in dem man seit Generationen achten musste, im Sommer genug anzusammeln, damit man den langen Winter übersteht, immer langfristiger denken als in unseren Breiten. Lässt man Elternurlaub zu, verändert man ein Klima und Beziehungskulturen. Zwingt man Menschen aber zu etwas, wird genau das, wozu man sie gezwungen hat, genau nicht im Hirn verankert. Was verankert wird, ist die Lösung, um aus dem Zwang herauszukommen. Zum Beispiel: Erst recht nicht.

Seit Jahrzehnten versuchen Pädagogen und Bildungswissenschafter immer wieder, die alten Strukturen im Bildungssystem Schule aufzubrechen. Was macht es so schwer?

Viele Reformschulbewegungen stammen aus den 1920er Jahren. Viele sind gescheitert. Die Gesellschaft konnte mit solchen jungen Menschen nichts anfangen - mit kreativen, gestaltungswilligen und selbstverantwortlichen. Hätten wir in den 1920er Jahren Kinder über Reformschulen großgezogen, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Diese Menschen lassen sich nicht einreden, dass andere Menschen Untermenschen sind. Sie können sich selbst ein Urteil bilden, Selbstverantwortung übernehmen und sich gemeinsam mit anderen gegen etwas, was ihnen zugemutet wird, wehren. Erst jetzt ist erstmals die Chance für Veränderung. Denn die bisherigen Rezepte der Gesellschaft sind auf fast allen Ebenen gescheitert. Weder Politiker noch Universitätsprofessoren wissen, wie es jetzt weitergeht - mit dem Sozialsystem, dem Bildungssystem, den Gesundheitssystemen, inzwischen sogar mit den Wirtschafts- und Finanzsystemen. Da muss etwas Grundsätzliches geschehen. Das derzeitige gesellschaftliche Klima bietet günstige Bedingungen, sich auf den Weg zu machen, um das, was in Schulen passiert, aber vielleicht auch in Krankenhäusern, Altenheimen oder in Flüchtlingsheimen, selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen.

Zur Person

Gerald

Hüther

Der Hirnforscher und Sachbuchautor ist Professor für Neurobiologie an der Uni Göttingen. Er versteht sich als Brückenbauer zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher Lebenspraxis.

Siehe dazu auch: Rakete im Klassenzimmer