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"Einzelkämpfer verändern das System nicht"

Von Alexandra Grass

Politik
© fotolia/Diana_Drubig

Die Bildungspsychologin Christiane Spiel über nötige Reformen und die Herausforderungen in der Flüchtlingsproblematik.


"Flipped Classroom" nennt sich jene Unterrichtsform, bei der Schüler den Lernstoff selbst erarbeiten und der Lehrer als Coach fungiert und Zusammenhänge darstellt. In ihrem neuen Buch "Schule. Lernen fürs Leben?!" zeigt die Bildungspsychologin Christiane Spiel auf, wie dieses Konzept zu Leben erweckt werden kann. Angesichts der wiederkehrenden schlechten Pisa-Ergebnisse für Österreich sieht sie Handlungsbedarf. Die "Wiener Zeitung" hat mit der Autorin über Schwächen im Bildungssystem, dessen Potenzial und die Herausforderungen in der Flüchtlingsproblematik gesprochen.

"Ein Hauptproblem im Bildungsbereich ist, dass man Erfolge von Reformen erst spät einfährt", sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel im Interview. 

"Wiener Zeitung": Wiederkehrend im Herbst gibt es Aufrufe zum Umbruch im Bildungssystem. Zuletzt durch die Initiative "Neustart Schule", der Sie auch angehören. Sie selbst beurteilen das System als teuer, aber nicht erfolgreich. Warum scheitern Reformversuche?Christiane Spiel: Oft starten sie gar nicht wirklich. Denn ein Hauptproblem im Bildungsbereich ist, dass man Erfolge von Reformen erst spät einfährt. Rechnet man etwa zur Lehrerausbildung die Schulzeit der Kinder mit ein, vergehen mindestens zehn Jahre, bis wir Wirkungen bei den Schülern sehen. Eine Legislaturperiode hingegen dauert nur fünf Jahre. Damit ist klar, dass sich die Politiker gut überlegen, ob sie diese Reformen überhaupt angehen. Lehrern muss es dann auch gelingen, neue Lerntechniken und Strategien umzusetzen und in weiterer Folge die Schüler ihr Lernverhalten entsprechend ändern. Es gibt also einige mögliche Störfaktoren. Das macht es schwierig, auch bei gut fundierten Maßnahmen Wirkungen zu erzielen. Das begünstigt Ideologien und behindert Reformen.

In ihrem Buch stellt Spiel die Unterrichtsform "Flipped Classroom" vor, bei der Schüler den Lernstoff selbst erarbeiten. 

Manche Experten meinen, dass ein Umbruch von innen heraus starten muss, um echte Erfolge sehen zu können. Eine Verordnung durch den Gesetzgeber sei nicht zielführend. Sehen Sie das ähnlich?

Das wird nicht überall funktionieren. Wir haben viele Schulen, die Reformen angehen, neue Strategien wählen, erfolgreich sind. Wir haben aber auch viele, die das nicht tun. Es bedarf einer Mischung von Top-Down und Bottom-Up, wobei Veränderungen im Gesamtsystem sehr schwer von unten umzusetzen sind, weil es auch Ausbildungs- und Unterstützungsangebote geben muss. Self-made-Reformen funktionieren ohne Unterstützung zumeist nur lokal. Wichtig ist die systematische Einbindung aller Lehrer. Auch jener mit Ressentiments, um zum Ziel zu kommen.

Häufig fällt der Begriff "Neues Lernen". Viele Ideen stammen aus der Reformpädagogik - sie sind alt.

Wir wissen sehr viel darüber, wie wir Schule gestalten können, und auch schon sehr lange. Die große Schwierigkeit besteht darin, das Wissen darüber an die Orte zu bringen, wo es gebraucht wird - flächendeckend. Die Implementationsforschung hat Rahmenkonzepte entwickelt, welche Schritte zu setzen sind, wer eingebunden werden muss und wie man mit Widerständen gegen Änderungen umgeht. Die Änderungsresistenz resultiert aus einem Selbstschutz. Denn, wenn ich zugebe, dass Veränderungen nötig sind, gebe ich auch zu, dass es vorher nicht so gut war. Das sind unbewusste Prozesse, die uns alle betreffen, mit denen wir aber umgehen müssen. Kurzum: Wir benötigen eine systematische Implementation.

Ein erster Schritt müsste vermutlich die Lehrerausbildung sein.

Fort- und Weiterbildung müssen ein Teil des Professionsverständnisses sein und zu einem großen Teil die Schulentwicklung zum Inhalt haben, damit Lehrer die Möglichkeit haben, daran auch mitzuwirken. Wir haben nach wie vor viele Schulen, denen es an Teamverständnis mangelt, wo sich Lehrer als Einzelkämpfer sehen. Doch es gibt Studien, die zeigen, dass das Schulklima und die Schülerleistungen umso besser sind, je mehr Lehrer sich als Team verstehen. Einzelkämpfer werden das System nicht verändern.

Thema Pisa: Finnland und Südkorea sind mit völlig konträren Schulsystemen an der Spitze. Kann sich da Österreich etwas abschauen?

Wir können Reformen nicht eins zu eins von anderen Ländern übertragen. Wir haben eine gewachsene Kultur. Der Föderalismus, die hohe Parteipolitik im Bildungssystem und unsere Schulorganisation hemmen viel. Das System aus Südkorea werden wir wohl nicht wollen. Das finnische wäre ähnlicher, doch gibt es starke Kulturunterschiede. Etwa bei der Wertschätzung der Lehrer. Eine dort gelebte hohe Selektion, wo nur die Besten ausgebildet werden, führt zu hohem Ansehen. Stark verankert ist in Finnland auch die Verantwortungsübernahme. Es werden Unterstützungssysteme in Anspruch genommen, um kein Kind zurückzulassen. In Österreich haben wir weder das hohe Ansehen noch diese Verantwortlichkeit noch so viele Unterstützungssysteme. Ich hoffe, dass sich das durch die neue Pädagogenausbildung ändert. Ein Lehrer hat mehr zu können als sein Fach. Es geht auch um soziale Kompetenzen, um Kompetenzen, mit Verschiedenheit umzugehen, um Schulentwicklung, Elternkontakt und vieles mehr.

Unter Druck sollen Kinder Lernziele erreichen, um etwa ins Gymnasium aufsteigen zu können. Gibt es Lösungsansätze, wie man Kinder davon befreien kann?Diesen Druck üben häufig die Eltern aus. Sie wollen das Beste für ihr Kind und vergessen, ob das, was sie tun, dieses Beste wirklich fördert. Es geht weniger um Inhalte und darum, was Kinder gelernt und gemacht haben, als um Noten. Die Eltern tragen damit dazu bei, dass Schule negativ besetzt wird. Sie wären gut beraten, diesen Druck rauszunehmen. Dazu kommt das hochproblematische System des Schulwechsels nach der Volksschule. Die beste Lösung wäre eine gemeinsame Schule bis zum Alter von 14 Jahren. Der Nationale Bildungsbericht zeigt, dass die frühen Entscheidungen nur zu 30 Prozent durch Leistungen der Schüler erklärbar sind und zu 70 Prozent die Eltern wählen. Doch die frühen Entscheidungen bedingen die späteren.

Wie beurteilen Sie den Einsatz Neuer Medien an den Schulen?

Die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, dass manche Länder, die verstärkt auf Neue Medien gesetzt haben, sogar schlechter geworden sind. Neue Medien können nur dann etwas verbessern, wenn sie mit einem didaktischen, lernpsychologischen Konzept verbunden sind. Der Vorteil ist, dass man individualisierter lernen kann. Das ist wichtig, denn der reine Frontalunterricht ist immer an den fiktiven Schüler in der Mitte gerichtet. Eine Kombination sieht das Konzept "Flipped Classroom" - die Schüler lernen selbständig, die Lehrer sind Coaches - vor. Doch auch hier muss ich Überlegungen anstellen, wie ich die Elemente nutze und in eine Gesamtintegration bringe. Neue Medien werden Lehrpersonen daher nie ersetzen können.

Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie angesichts der Flüchtlingsproblematik auf das Bildungssystem zukommen?

Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge rasch in die Schule integriert werden, denn klare Strukturen erleichtern die Verarbeitung von Traumata. Bildung erhöht auch die Chancen für den Arbeitsmarkt. Und schließlich geht es auch um soziale Integration. Unsere Studien zeigen, dass Freundschaften in der Schule heterogener sind als außerhalb. Das erleichtert die Integration. Schule ist der Ort, wo Kulturen aufeinandertreffen, Vorurteile abgebaut und Ressentiments zurückgenommen werden. Sinnvoll wäre auch eine Ressourcenverteilung nach einer Art Sozialindex. Damit könnten jene Schulen mit hohem Migrantenanteil mehr Geld erhalten. Autonom verwaltet könnte dieses etwa für psychologische Unterstützung für Flüchtlinge, für Sozialarbeiter oder andere Unterstützungsmöglichkeiten eingesetzt werden.

Zur Person:

Christiane Spiel

Die Bildungspsychologin ist Vorstand des Instituts für Angewandte Psychologie an der Universität Wien. Sie hat die Bildungspsychologie als wissenschaftliche Disziplin begründet.