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Hürdenlauf Barrierefreiheit

Von Petra Tempfer

Politik
Auch der Zugang zu Sprache fällt unter das Behindertengleichstellungsgesetz.
© Corbis/Image Source

Die Umsetzung der kompletten Barrierefreiheit verzögert sich.


Wien. "Barrierefrei - ein Plus für alle!" Das Sozialministerium schaltet zurzeit ganzseitige Inserate mit diesem Slogan in Zeitungen und Magazinen, enden doch mit 1. Jänner 2016 sämtliche Übergangsbestimmungen für die Umsetzung der Barrierefreiheit in Österreich. Gemäß dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2006 muss bis dahin der Zugang zu allen vom Bund und von Privaten angebotenen Waren und Dienstleistungen barrierefrei sein, was freilich auch die Wirtschaft ankurbeln würde. Doch je näher das Ende der Frist rückt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese eingehalten wird. "Ich glaube, wir werden es nicht schaffen", sagte selbst Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) im Vormonat am Rande einer Pressekonferenz. Er rechne mit einem weiteren halben Jahr bis zur Umsetzung.

Das Problem sind allerdings nicht allein die Umbauten an Gebäuden wie Banken, Geschäfte oder Ministerien zum Beispiel für Rollstuhlfahrer. Ministerien etwa seien bereits "zu einem großen Teil" barrierefrei, sagt Max Rubisch, Abteilungsleiter für Behindertenrecht und -politik im Sozialministerium, zur "Wiener Zeitung". Zwar sei schon jetzt klar, dass nicht alle Gebäude bis 1. Jänner 2016 umgebaut sein werden, das weitaus größere Sorgenkind sei allerdings die barrierefreie Kommunikation und Information.

Information sollbei jedem ankommen

Denn diese ist laut Rubisch erst bei öffentlichen Webseiten fortgeschritten, bei privaten hingegen biete nur ein Bruchteil leicht zugängliche und verständliche Informationen an. Und das, obwohl die Barrierefreiheit für Information und Kommunikation schon seit 2006 fix gilt und die Übergangsfrist für Webseiten bereits 2008 geendet hatte.

In das Kapitel Kommunikation und Information fallen zahlreiche Bereiche. So sollen zum Beispiel bei Vorträgen Gebärdendolmetscher übersetzen oder Induktionsanlagen für Menschen mit Hörgeräten zur Verfügung stehen (ermöglichen den Empfang störungsfreier Audiosignale). Barrierefreiheit beim Fernsehen funktioniert unter anderem über Untertitel, und Signale im Verkehr sollten alle dem Zwei-Sinne-Prinzip (optisch und akustisch) folgen.

Auch bei geschriebenen Texten ist das Ziel, dass die Information auch wirklich bei der Zielgruppe - unabhängig von Alter, Herkunft oder Bildungsniveau - ankommt. Darunter fallen Firmenseiten oder Bestellservices im Internet genauso wie Broschüren, Sicherheitshinweise, Anleitungen oder Verhaltenskodizes.

Eine Million Österreicherkann nicht sinnerfassend lesen

Das Social Franchise Netzwerk Capito Wien hat rund 170 Kriterien erarbeitet, die ein Text erfüllen muss, damit er verstanden wird. Diese Qualitätsstandards sind TÜV-geprüft. Wer sie erfüllt, erhält das "Leicht Lesen"-Gütesiegel. Problematisch seien vor allem überlange Sätze oder Fachausdrücke, sagte Herwig Küng, Leiter von Capito Wien, am Mittwoch bei einem Pressegespräch anlässlich der eintägigen Fachkonferenz "Gleichberechtigt in Sprache und Leben". Capito Wien übersetzt auf Auftrag komplizierte Texte in eine einfache Sprache.

Für etwa zehn Prozent der Österreicher ist diese Art der Barrierefreiheit essenziell: Fast eine Million der über 16-Jährigen sind einer OECD-Studie zufolge funktionale Analphabeten und können nicht sinnerfassend lesen. Dazu kommen Menschen mit Beeinträchtigungen und all jene, die eine andere Muttersprache sprechen. Für 40 Prozent sei barrierefreie Information eine wichtige Stütze, so Küng - und für 100 Prozent durchaus komfortabel.

Wenn auch mit Ende der Übergangsfrist für das Behindertengleichstellungsgesetz noch immer nicht alle Bauwerke, Verkehrsmittel und Informationen barrierefrei zugänglich sind, so haben Menschen, die sich diskriminiert fühlen, dennoch eine zusätzliche Chance: Sie können laut Rubisch auf Schadenersatz klagen. "Es wird aber immer eine Frage der Zumutbarkeit bleiben", so der Jurist. Würden die Kosten für einen barrierefreien Zugang zum Beispiel einen kleinen Unternehmer in den Ruin treiben, wäre das nicht zumutbar.

Klage auf Schadenersatzist möglich

Interessant in diesem Zusammenhang: Selbst wenn ein Kläger recht bekommt, muss der Verurteilte nur die Schadenersatzsumme zahlen. Einen barrierefreien Zugang schaffen muss er nicht.