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Die neuen Nachbarn

Von Marina Delcheva

Politik

Die "Sorge" vor den Flüchtlingen geht um. Die Kluft zwischen Helfern und Hetzern wird größer.


Wien. "Es ist ein Wahnsinn, wie viele da kommen. Und sie bekommen alle Geld vom Staat. Wir gehen wenigstens arbeiten und erhalten uns selbst." Es geht, wie häufig in letzter Zeit, um Flüchtlinge. Die Aussage stammt aber von einer jungen Bulgarin, die seit zwei Jahren hier lebt und arbeitet. In dieser Zeit war sie zwei Monate beim AMS.

Irgendetwas passiert gerade in Österreich. Nach dem Sommer der Hoffnung befindet sich das Land im Herbst der Ernüchterung. Die Stimmung schwank zwischen Ablehnung und Zuversicht. Hier die einen, die Pullis und Essen zu den frierenden und erschöpften Schutzsuchenden an Österreichs Bahnhöfen bringen. Dort die anderen, die einen Zaun um Österreich bauen und keinen einzigen Flüchtling ins Land lassen wollen. Und dazwischen: eine schweigende Gruppe, die noch nicht recht weiß, auf wessen Seite sie steht. Was sind nun die "Sorgen der Bevölkerung", die die Regierung nach ein paar verpatzten Wahlen neuerdings ernst nehmen will? Und wie berechtigt sind sie?

Eine Umfrage unter 500 Österreichern von Unique Research zeigt: Zwei Drittel der Befragten sind ob der ankommenden Flüchtlinge besorgt und empfinden Unbehagen. Vor zwei Monaten, so Meinungsforscher Peter Hajek von Unique Research, war noch knapp die Hälfte in Sorge wegen der Flüchtlingskrise. "Die Sorge nimmt zu. Grundsätzlich gilt: Je älter und je schlechter gebildet, desto ängstlicher", sagt er. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Marketagent.

Vom Notquartier zur Dauerlösung

Diese Sorgen, die zunehmend die Sozial- und Meinungsforscher beschäftigen, müssten hier, in der Bendlgasse in Wien Meidling, besonders groß sein. Im Sommer wurde im hiesigen Kolpinghaus ein Notquartier für Schutzsuchende eingerichtet, das jetzt auf "dem Weg zur Grundversorgung" und damit Dauerlösung ist, sagt Marlene Huemer. Die Sozialarbeiterin betreut hier mit ihren Kollegen rund 200 Schutzsuchende aus Syrien, dem Irak, Afghanistan.

Meidling ist nicht der Bezirk mit dem höchsten Migrantenanteil in Wien, aber im Gretzel um den Meidlinger Markt hört man besonders häufig Türkisch, Bosnisch, Serbisch oder Ungarisch. Es gibt zahlreiche Kebabstände, türkische Frisöre und russische Hauswarenhändler. Vereinzelt gibt es auch hippe Frühstückslokale und in ein paar der umliegenden Dachgeschoßwohnungen sind junge Eltern mit Uni-Abschluss eingezogen, deren Kinder Maximilian und Anna heißen. Sie haben den Flüchtlingen im Heim auch Sachen vorbeigebracht und empfinden eher Mitleid denn Sorge. Im Erdgeschoß macht sich allerdings Unruhe breit, sei diese begründet oder nicht.

Langsam kehrtRuhe ein

Auf den Balkonen des Kolpinghauses hängt Wäsche. Ein paar Männer stehen vor dem Eingang und Rauchen. In der Gasse tönt Kindergelächter und der Gehsteig ist mit bunter Kreide verziert - Blumen, wackelige Buchstaben und etwas, das wie ein Gewehr aussieht. "Langsam kehrt hier Ruhe ein", sagt Huemer. Die Kinder gehen in den Kindergarten, ihre Eltern in den Deutschkurs. "Ich heiße Mahmoud, ich komme aus Afghanistan und ich lerne Deutsch", sagt einer der Bewohner. Mehr Konversation geht noch nicht.

Probleme mit den Nachbarn gibt es keine. "Bedroht fühle ich mich nicht. Wir bekommen die Flüchtlinge nicht einmal mit", erzählt Regina Marangoni. Sie betreibt einen Frisörsalon neben dem Flüchtlingsheim. Auch ihre Nachbarinnen, die Floristin Irene Beilner und die bosnisch-stämmige Bäckerin, sagen: "Es gab nie Probleme."

Angst vor planlosenPolitikern

Wozu dann die Sorge? Und warum die Angst vor den neuen Nachbarn, die niemanden stören und freundlich grüßen? "Die Situation macht mir Angst, ich bin zwiegespalten. Ich will nicht hetzen, ich lese gerade ,Auf der Flucht‘, von diesem, wie heißt er, El-Gawhary. Ich will die Leute verstehen und ehrlich, ich wüsste auch nicht, was ich in der Situation tun würde", sagt Frisörin Marangoni, "aber wir können nicht alle aufnehmen." Sie fürchte sich vor den sozialen Kosten und davor, dass nicht alle einen Job finden können. "Das wird sich nicht von selbst regeln."

"Die Angst, dass zu viele kommen, ist nachvollziehbar", sagt der Soziologe Kenan Güngör. Er kam als Kind kurdischer Gastarbeiter nach Deutschland und lebt nun in Österreich. "Unsere Offenheit hat bestimmte Voraussetzungen. Wenn man das Gefühl hat, damit überfordert zu sein, kann das in Aggression umschlagen", sagt er. "Wenn wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben wollen, darf der Preis nicht Ausblendung sein." Er plädiert für einen respektvollen aber offenen und kritischen Umgang mit Problemen wie autoritäre Traditionen, Ungleichheit von Mann und Frau, dem erzkonservativen Islam. "Menschen bringen Schicksale, Erfahrungen und Kompetenzen mit, aber auch unterschiedliche Lebensvorstellungen, die bedingt kompatibel sind."

Zurück zu den Flüchtlingen: "Frau Journalistin, können Sie mir sagen, ob da oben (die Politik, Anm.) irgendjemand einen Plan hat, was hier passiert und wie wir das alles regeln?", fragt ein Besucher in Frau Beilners Blumengeschäft. "Die Menschen hätten gern eine klare Haltung und Regeln von der Bundesregierung, wie man die Krise bewältigt. Aber Klarheit und ein Plan fehlen", kritisiert auch Hayek. Das Führungsvakuum, das entstanden sei, führe dazu, dass die Polarisierung in der Gesellschaft zunehme, auf beiden Seiten.

"Die Grenze ist schon längst überschritten. Wenn man schon Geld ausgeben muss, dann soll man das alles runterschicken, damit sie nicht herkommen", sagt Wirtin Eva Schikelez. Sie ist selbst vor 40 Jahren aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich geflüchtet. Jetzt spricht sie von zu hohen Flüchtlingsausgaben und davon, dass die Flüchtlinge und der Islam nicht integrierbar seien. Ihre Gäste im Kaffee Libero machen sich Sorgen, dass man ihnen die Pension oder soziale Leistungen kürzt wegen der Flüchtlinge. Die Verdrängungsangst nimmt zu. Die, die wenig haben, fürchten sich vor jenen, die noch weniger haben.