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Österreichs Schmerzgrenze

Von Marina Delcheva

Politik

Mitterlehner fordert Obergrenze für Flüchtlinge. Diese ist rechtlich und moralisch schwierig, aber nicht unmöglich.


Wien. Wie viele Flüchtlinge kann Österreich noch aufnehmen? Geht es nach Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP), ist die Schmerzgrenze mit 90.000 bis 100.000 Schutzsuchenden erreicht. Im Ö1-Morgenjournal nennt er das eine "kapazitätsorientierte Obergrenze". So viele könnten im kommenden Jahr in Österreich untergebracht werden, meinte er. "Viel mehr wird nicht gehen."

Bernd Wachter, Generalsekretär der Caritas Österreich, will von einer Obergrenze nichts wissen. "Da gibt es eine klare Rechtsposition und diese betrifft auch den Vizekanzler. In der Genfer Flüchtlingskonvention gibt es keine Obergrenze für Flüchtlinge", sagt Wachter zur "Wiener Zeitung". Asyl sei ein Menschenrecht und dieses sei nicht verhandelbar. Gleichwohl räumt auch er ein, dass ein Land wie Österreich nicht unzählig viele Menschen aufnehmen könne. Wo liegt also diese Obergrenze für Flüchtlinge? Und was passiert, wenn sie erreicht ist?

Obergrenze problematisch

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sieht ganz klar vor, dass jeder Mensch, der vor Verfolgung und Krieg flieht, das Recht auf Asyl hat. Österreich ist der GFK, ebenso wie 146 anderen Staaten, beigetreten und hat sich damit völkerrechtlich verpflichtet, Schutzsuchende aufzunehmen und ihre Schutzbedürftigkeit in einem ordentlichen Verfahren zu prüfen.

"Eine A-priori-Quotierung darf es in der Form nicht geben", erklärt Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk. Jeder Staat sei deshalb angehalten, alle seine Ressourcen zu mobilisieren, um Asylsuchende unterzubringen. Einer Obergrenze im juristischen Sinn kann es also nicht geben. Eine Schmerzgrenze aber sehr wohl, meint der Verfassungsjurist. "Niemand kann verpflichtet werden, an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit oder darüber hinaus zu kommen." Deshalb dürften Staaten aus Gründen des Selbsterhalts und der nationalen Sicherheit auch "entsprechende Maßnahmen setzen".

Eine solche Maßnahme sind zum Beispiel Rückführungen in sichere Drittstaaten. Dazu zählen etwa Österreichs Nachbarstaaten, theoretisch auch die Türkei und manche Herkunftsländer. Solche Rückführungen sind aber problematisch, weil Österreich mit verhältnismäßig wenigen Staaten Rückführabkommen geschlossen hat. Außerdem weigern sich viele Länder, abgewiesene Schutzsuchende wieder aufzunehmen. Die Menschen bleiben dann quasi als Geduldete in Österreich. Auch der Grenzzaun, oder die "bauliche Maßnahme", wie ihn Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nannte, sei auch eine solche Möglichkeit.

2016 keine Entspannung

Mit welcher Zahl man diese Obergrenze festlegt, ist strittig. Während für Mitterlehner bei 100.000 Schluss sein soll, sieht Wachter von der Caritas etwas Luft nach oben. "Wie wir sehen, ist mit gutem Willen vieles machbar", sagt er. Staaten wie der Libanon, wo mittlerweile jeder Vierte ein Flüchtling ist, hätten die Grenzen des physisch machbaren überschritten, Österreich noch nicht.

Ebenso wie die Bundesregierung, plädieren Wachter und Funk für mehr europäische Solidarität und eine gemeinsame Quotenlösung. Nur wird das nicht in Österreich entschieden und das Nein der osteuropäischen EU-Staaten dazu klingt bisweilen sehr kategorisch.

Auf der anderen Seite ist eine Entspannung der Situation auch im kommenden Jahr nicht in Sicht. Nach rund 85.000 Schutzsuchenden heuer, sollen 2016 mindestens genauso viele kommen, oder mehr. Es könnte also sein, dass Österreich diese von Mitterlehner vorgeschlagene Grenze gar nicht erreicht. Wenn nun doch eine Obergrenze mit 90.000 festgelegt wird, kann man dann den 90.001. an der Grenze einfach wegschicken? "Das wäre ein Völkerrechtsbruch", meint Funk. Theoretisch könnten dann die Betroffenen auf Einzelschutz vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. "Aber wir sind gerade in einer Notsandssituation." Und da stoße auch das Rechtssystem an seine Grenzen.