Zum Hauptinhalt springen

30 Jahre Gulasch mit Saft

Von Petra Tempfer

Politik

Am 1. und 2. März 1986 wurde St. Pölten zur Landeshauptstadt gewählt.


St. Pölten. "Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft." Mit diesem Slogan initiierte der damalige Landeshauptmann Siegfried Ludwig (ÖVP) vor 30 Jahren eine Volksbefragung, ob die Niederösterreicher eine eigene Landeshauptstadt wollen und falls ja, welche. Das Gulasch hat heute seinen Saft. 56 Prozent sprachen sich am 1. und 2. März 1986 für eine eigene Hauptstadt aus, St. Pölten wurde mit 45 Prozent klar favorisiert. Krems (29 Prozent, in der Zeit des Nationalsozialismus Gauhauptstadt), Baden (8), Tulln (5) und Wiener Neustadt (4) waren offenbar weniger schmackhaft. Niederösterreichs damalige Hauptstadt Wien, wofür sich die FPÖ ausgesprochen hatte, stand nicht auf der Liste. Schon ab 1960 galt St. Pölten als heimlicher Hauptstadt-Favorit der ÖVP.

Am 10. Juli 1986 beschloss der Landtag nun, St. Pölten zur Landeshauptstadt zu machen. Seitdem versucht die Stadt, das ihr anhaftende Image der grauen, reizlosen Industriestadt abzustreifen und nicht nur ökonomisch, sondern auch in ihrem Selbstverständnis zu einer Hauptstadt zu avancieren. Das ist ihr auch zum Teil gelungen - aber eben nur zum Teil.

Die Einwohnerzahl ist von 52.452 im Jahr 1986 auf heute 58.445 gestiegen. Die Arbeitsplätze haben sich trotz der Auflösung der Glanzstoff-Fabrik 2009 verdoppelt: Vor 30 Jahren gab es 1689 aktive Betriebe und 26.000 Arbeitsplätze, heute sind es mehr als 54.000 in 3539 Betrieben. "Das Amt der Landesregierung mit 2800 Mitarbeitern ist neben dem Universitätsklinikum der größte Arbeitgeber der Stadt", sagt Bürgermeister Matthias Stadler (SPÖ) zur "Wiener Zeitung".

Damals, als St. Pölten Hauptstadt wurde, hatte Willi Gruber (SPÖ) gerade einmal ein Jahr lang dieses Amt inne. Er sollte der längstdienende Bürgermeister St. Pöltens in der Nachkriegszeit werden, bis er 2004 als Bürgermeister und Stadtparteichef zurücktrat.

Die Stadt musste Ausgaben in Millionenhöhe vorfinanzieren

"Die neue Hauptstadt soll nicht wuchern, sondern sinnvoll wachsen", sagte Gruber im Jahr nach der Volksbefragung und gab eine städtebauliche Gesamtstudie um 3,3 Millionen Schilling (240.000 Euro) in Auftrag. Ein Jahr später stand fest, wo das Regierungsviertel entstehen sollte. 1992 erfolgte der Spatenstich zum Bau des Landhauses nahe der Traisen im Osten der Stadt, 1997 übersiedelte das Amt der niederösterreichischen Landesregierung von der Herrengasse in Wien nach St. Pölten. Das Wiener Gebäude steht noch immer im Eigentum Niederösterreichs und wird heute als "Palais Niederösterreich" zur Repräsentation des Landes in der Bundeshauptstadt verwendet.

12.000 Einwohner, so schätzte man damals euphorisch, sollten in den folgenden Jahren mit der Verlegung der Landesverwaltung in die Hauptstadt zuziehen. Heute sind es gerade einmal die Hälfte davon, also rund 6000 Einwohner mehr. St. Pölten wächst zwar - aber warum so langsam?

"Es hat 15 bis 20 Jahre gedauert, bis die Entwicklung so richtig angelaufen ist", sagt dazu Stadler. Plötzlich Landeshauptstadt zu sein, habe die Stadtverwaltung "total gefordert". Die Strom- und Wasserversorgung, das Kanalnetz, die Kläranlage, die Infrastruktur, Naherholungsgebiete - all das musste als Vorbereitung auf die wachsende Einwohnerzahl ausgebaut werden. Daneben die Großbaustelle Landhaus. "Das alles kostete Millionen", so Stadler. Die Stadt musste vorfinanzieren. Eine Herausforderung, denn auf das zur Verfügung stehende Budget wirke sich die Erhebung zur Landeshauptstadt nicht aus. Ganz im Gegenteil. "Öffentliche Einrichtungen zahlen keine Kommunalsteuer", sagt Stadler mit Blick auf das Landhaus.

Durch die Betriebsansiedlungen und die Zuwanderung fließen die Ausgaben - wenn auch mit Verzögerungen - aber schon zurück. Diese Entwicklung ist laut Stadler immer noch in Gange. Die Inbetriebnahme der Westbahnstrecke vor etwas mehr als drei Jahren zum Beispiel eröffnete erst völlig neue Möglichkeiten: Sie lockte zahlreiche Wiener nach St. Pölten, so der Bürgermeister, die jetzt hier wohnen und hin und her pendeln. Die Vorteile laut Stadler: Eine Fahrt nach Wien dauert nur 20 Minuten und die Wohnungspreise sind (noch) niedrig. "Die Mieten liegen bei 7,30 Euro pro Quadratmeter", sagt Stadler. In Wien zahlt man 8 bis 16 Euro pro Quadratmeter. Außerdem sei der Wohnungsmarkt in St. Pölten mit einer Fläche von rund 100 Quadratkilometern noch ausbaufähig.

Bundesländergrenzen verschwimmen

Die Nähe zu Wien sei ein Segen - dem Trendforscher Andreas Reiter zufolge aber auch ein Fluch. Ein Schelm, wer St. Pölten als "Vorort von Wien" bezeichne. Tatsache sei aber, dass Bundesländergrenzen verschwimmen und Hybrid-Räume entstehen. Für St. Pölten und dessen Selbstverständnis als Landeshauptstadt bedeutet das, dass viele Zuwanderer nicht einmal Niederösterreicher sind und der Stadt bei ihrer Suche nach Identität nicht unbedingt dienlich sind.

"Wenn sich St. Pölten richtig positionieren möchte", sagt Reiter, "sollte man die Achse Krems - St. Pölten stärken." In Vorarlberg etwa sei das bereits gelungen, wo sich eine solche Achse aus Bregenz (Hauptstadt, Kulturstadt), Dornbirn (Messestadt, Wirtschaft) und Feldkirch (Gerichte) formt. In Niederösterreich stehe Krems für Forschung und Kultur. Mit der Donauuniversität nahe dem mittelalterlichen Stadtkern präsentiere sich Krems als alte Stadt mit junger Wissenschaft. St. Pölten hat zwar auch eine Fachhochschule mit 2300 Studierenden, die 2004 eröffnete Privatuniversität "New Design University" und ein breit gefächertes Kulturangebot mit drei Theatern. Punkten kann St. Pölten laut Reiter aber vor allem als das, wofür es schon immer stand: als Arbeiterstadt. "Wenn es gelingt, dieses Image durch Ansiedelungen zu verjüngen und durch den Regierungssitz zu bereichern, sehe ich tolle Zukunftschancen."

Eine Hauptstadt ohneechtes Wahrzeichen?

Um sich speziell als Landeshauptstadt zu positionieren, fehlt dem Soziologen Roland Girtler aber noch immer etwas. Und zwar ein Wahrzeichen, ein Symbol. "Wien hat den Stephansdom, Graz den Uhrturm. In St. Pölten ist das nicht gelungen", sagt er zur "Wiener Zeitung". Der Mensch sei aber "ein Wesen, das Symbole braucht". Keines zu haben, macht laut Girtler die Bewohner unglücklich. Freilich habe man nachträglich versucht, Symbole zu schaffen. Mehrmals. Aber jedes Mal ohne Erfolg. Der 77 Meter hohe Klangturm von Architekt Ernst Hoffmann im Landhausviertel zum Beispiel, nach dem Dom das zweithöchste Gebäude der Stadt, wurde 1996 errichtet. Im Turm befinden sich drei große Kugeln, die als sogenannte Hörzonen fungieren. Oder das Landtagsschiff selbst, das Landtags- und Regierungsgebäude. "Das Viertel ist aber tot, es sind kaum Menschen geschweige denn Touristen dort", sagt Girtler. St. Pölten gelte noch immer als langweilige Stadt, und auch darunter litten die Bewohner.

St. Pölten werde noch immer unterschätzt, kontert Stadler. Allein an einem Tag fänden mehr als 40 Veranstaltungen in der Stadt statt. Und was das fehlende Symbol betrifft: "Unser traditionelles Wahrzeichen ist das barocke Rathaus. Seit mehr als 500 Jahren steht es auf dem Rathausplatz." Neben dem Barock präge der Jugendstil zahlreiche Gebäude.

Stadler ist derzeit jedenfalls in mehrerlei Hinsicht gefordert, muss er sich doch auf eine weitere Wahl vorbereiten - wenn auch einer anderer Art. Am 17. April wählen die St. Pöltner ihren Gemeinderat. Die Zukunft und Positionierung der jungen Hauptstadt wird aber auch dabei Thema sein.