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Wo kein Bescheid, da auch keine Klage

Von Jan Michael Marchart

Politik

In Oberösterreich läuft die Halbierung der Mindestsicherung seit Beschluss im Juni nur langsam und intransparent an.


Wien. Mehr als 100.000 Flüchtlinge haben seit dem vergangenen Jahr in Österreich einen Asylantrag gestellt. Der größte Teil dieser Menschen wird bleiben und drängt nach und nach auf den Arbeitsmarkt. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und einer nur schlecht nachvollziehbaren Ausbildung wird bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage Flüchtlingen mehrheitlich nur ein sozialer Strohhalm bleiben: die Mindestsicherung. Und gerade dieser Strohhalm soll, geht es nach FPÖ und ÖVP, einen kräftigen Knick bekommen, um weniger attraktiv für Neunankömmlinge zu werden. Doch während der Bund über eine einheitliche Form Mindestsicherung verhandelt, arbeiten die Bundesländer bereits an eigenen Varianten. Oberösterreich ist mit einem verfassungsrechtlich umstrittenen Modell vorgeprescht.

Seit Monaten streiten SPÖ und ÖVP im Bund über eine Reform der Mindestsicherung, die die Koalitionsparteien vor sechs Jahren mit großen Worten einführten. "Wir spannen damit ein soziales Auffangnetz vom Bodensee bis zum Neusiedlersee", sagte der frühere Sozialminister Rudolf Hundstorfer. "Ein reiches Land zeigt sich daran, wie es mit seinen Schwächsten umgeht", sagte ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka.

Debatte um Sozialstaat

Die Mindestsicherung etablierte sich seither als wirksames Mittel gegen Armut. Hartnäckig hält sich aber auch der Vorwurf, das System wäre kein "Sprungbrett in den Arbeitsmarkt", wie ursprünglich geplant, da teils die nötigen Anreize fehlten, sich um einen Job zu bemühen. "Insbesondere bei Familien sind die gegenwärtigen Sätze in Relation zu den am Markt erzielbaren Einkommen hoch, oft sogar zu hoch", schrieb Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmarktservice (AMS), Mitte Juni in einem Gastkommentar in der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit". Kopf bezeichnete die Mindestsicherung einst als "sozialpolitischen Meilenstein".

Die Rührseligkeit vergangener Tage scheint also verflogen zu sein, vielmehr sogar ins Gegenteil umzuschlagen. Spätestens seit die Migrationskrise Österreich im vergangenen Jahr in großem Ausmaß erreichte, steht die Mindestsicherung symbolisch für die Debatte um eine mögliche Überlastung des Sozialstaates.

Die ÖVP geht deshalb beinahe wöchentlich mit neuen Vorschlägen für Verschärfungen in die Öffentlichkeit, die weite Teile der SPÖ als unnötig empfinden. Die Volkspartei will einen Höchstbetrag pro Familie von 1500 Euro und Einschränkungen für Flüchtlinge, was aus Sicht der SPÖ verfassungsrechtlich nicht möglich ist. Annäherungen dürfte es aber hin zu mehr Sachleistungen und mehr Kontrolle geben.

Für Kanzler Christian Kern scheint auch die Höhe mittlerweile verhandelbar. Er hielt diese vor einer Woche "nicht für eine Sollbruchstelle in der Koalition". Kern möchte sich an Vorarlberg und der Steiermark orientieren. Die beiden Länder streben keinen Höchstbetrag an, setzen aber auf Sanktionen bei Missbrauch und Fehlverhalten. Vorarlberg will bei Arbeits- oder Integrationsverweigerung die Mindestsicherung kürzen, zudem soll es weniger Geld-, dafür mehr Sachleistungen geben. Maßnahmen, die jetzt schon gängig sind. "Die Reformen, die wir vornehmen, werden nämlich für alle Österreicher gelten", sagte Kern. Eine Differenzierung zwischen Österreichern und Ausländern sei rechtlich nicht möglich, meint er. Eine Einschätzung, die die meisten Verfassungsrechtler teilen, da sowohl Verfassungs- wie auch EU-Recht eine Gleichstellung von Österreichern und Flüchtlingen bei der Sozialhilfe vorsehen.

Mindestsicherung halbiert

Dennoch hat Oberösterreich so eine Regelung Ende Juni auf den Weg gebracht. Die schwarz-blaue Regierung halbierte hier die Mindestsicherung für Asylberechtigte. Statt bisher 914 Euro monatlich werden künftig 520 Euro ausbezahlt. Wer Integrationsmaßnahmen wie Deutschkurse nicht absolviert, muss auf weitere 155 Euro verzichten. Der juristische Knackpunkt sei laut dem Landesgeschäftsführer der ÖVP Oberösterreich, Wolfgang Hattmannsdorfer, dass die Kürzung nur für befristete Asylberechtigte (Asyl auf Zeit) gilt. "Durch diese Grenze wird der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt", ist er überzeugt. In diese Regelung fallen seit dem Stichtag 15. November 2015 alle Asylwerber. Das sehen einige Verfassungsrechtler kritisch.

Wie viele Personen in Oberösterreich die neue Regelung mittlerweile betrifft, kann das Land nicht quantifizieren. "Ein paar Tausend", heißt es. Einige würden ihre Familie nachholen, andere nach Wien ziehen, wo die Sozialleistungen höher sind. Subsidiär Schutzberechtigte gebe es in Oberösterreich "einige Hundert".

Alles in allem bleibt die Zahl der Betroffenen unübersichtlich; unklar ist auch, wie oft die neue, gekürzte Mindestsicherung seit dem Beschluss beantragt wurde. Hattmannsdorfer spricht von "zwölf Fällen". Das Büro der Soziallandesrätin Birgit Gerstorfer (SPÖ) verweist mit Stand 1. September auf lediglich drei Anträge für die neue Regelung - und für keinen der drei Fälle geben es einen Bescheid. Im Herbst soll die neue Mindestsicherung an Relevanz gewinnen. Durch die lange Zeitspanne zwischen der Stellung des Asylantrags und der Grundversorgung sollen dann mehr Bescheide für die neue Sozialleistung eingehen.

Noch keine Klagen

Fehlende Bescheide sind auch der Grund, weshalb es im Landesverwaltungsgericht noch ruhig ist. Man habe zwar mit etlichen Rechtsfällen zur Mindestsicherung zu tun, aber noch nicht mit der neuen Variante. Das Gutachten des Sozialrechtsexperten Walter Pfeil kommt zu dem Fazit, dass Betroffene mit Klagen gegen Kürzungen gute Erfolgsaussichten hätten.

Gelingt das nicht, wird der Vorstoß aus Oberösterreich wohl zum Präzedenzfall - auch für den Bund. Dort fordert die ÖVP, den Anspruch auf den vollen Bezug erst nach fünf von sechs Jahren in Österreich zu gewähren. In der Zwischenzeit soll es 560 Euro pro Person geben. Eine Forderung, die weiter geht als jene in Oberösterreich. Diesen würde die dortige ÖVP übernehmen, wenn sie im Bund durchgeht.