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Land der Vorurteile

Von Petra Tempfer

Politik

Österreicher wollen von allen EU-Bewohnern am wenigsten gern neben Migranten wohnen.


Wien. In der Seele der Österreicher ruhe ein latenter Minderwertigkeitskomplex, sie sei geprägt von Selbstzweifel, sagte Leopold Radauer vom Sir Peter Ustinov Institut in Wien, das sich die Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen zum Ziel gesetzt hat.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, war Österreich auf einen Bruchteil geschrumpft und hatte seinen Zugang zum Meer verloren. Danach ging es durch einen Bürgerkrieg, durch den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus, die ihm noch immer anhaftet. Und genau darin liege das enorme Maß an Vorurteilen begründet, das Österreich an den Endpunkt der europäischen Wertestudie trieb: Österreicher wollen demnach im Vergleich zu den Bewohnern der anderen EU-Länder am wenigsten gerne neben Migranten wohnen.

Vorurteile gegenüber einer Minderheit

Auf Einladung des Autofahrerclubs ÖAMTC diskutierte Anfang dieser Woche eine Expertenrunde zu dem Thema. Die Conclusio: Eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie Vorurteile aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit unabhängig vom individuellen Verhalten genannt werden, sind immer Ausdruck von Macht - genährt durch Anerkennungsprobleme. Menschen, die sich bedroht fühlen, neigen signifikant öfter dazu, andere abzuwerten. Sobald diese Menschen glauben, dass sie zu einer Mehrheit gehören, entwickeln sie Vorurteile gegenüber einer Minderheit: aktuell Flüchtlinge, aber auch Langzeitarbeitslose, Obdachlose, behinderte Menschen und Migranten.

Eines gleich vorweg: So selbstbewusst und geschichtlich unbeeinflusst kann eine Gesellschaft aber gar nicht sein, als dass sie gar keine Vorurteile hegte. Eine demokratische Gesellschaft zeichne sich aber genau dadurch aus, Menschen gleichwertig zu behandeln und "die physische und psychische Unversehrtheit ihrer Mitglieder zu sichern", sagte der ehemalige Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld in Deutschland, Wilhelm Heitmeyer, der Langzeitstudien dazu durchgeführt hat.

Menschenfeindliche Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen widersprächen dieser Vorstellung von Gleichwertigkeit - weil sie die Integrität von Gruppen infrage stellten. Wem Letzteres allerdings in die Hände spiele, seien politische Parteien mit rechtspopulistischen Einstellungen. Deren Fremdenfeindlichkeit habe mit der aktuellen Flüchtlingssituation einen willkommenen Katalysator erhalten, so Heitmeyer.

Befeuert werde dies durch den wachsenden Zweifel an einer funktionierenden Demokratie. Einer seiner Studien zufolge liegt die Bereitschaft der rechtspopulistisch Eingestellten, nun aktiv zu werden, bei aktuell 41 Prozent. Im Jahr 2009 waren es noch 30 Prozent. Frauke Petry in Deutschland zum Beispiel, Vorsitzende der AfD (Alternative für Deutschland), lässt in ihren Reden bereits den Begriff des Völkischen wieder aufleben. In einem Interview mit der "Welt am Sonntag" warb sie dafür, den Begriff "völkisch" seiner NS-Einbindung zu entledigen und ihn positiv zu besetzen. Es missfalle ihr, "dass er ständig nur in einem negativen Kontext benutzt wird", sagte sie.

Wilhelm Heitmeyer hat dazu ein Eskalationsmodell erstellt. Es habe bereits gestartet, sagt er. Das Modell hat vier Stufen: Zuerst kommt es zu Provokationsgewinnen, indem Medien reagieren, und die für die Akteure zusätzliche Resonanz und Ermunterung bedeuten. Daran schließen Raumgewinne auf öffentlichen Plätzen zur Demonstration von Macht gegenüber anderen Gruppen an. Darauf folgen Räumungsgewinne, um bestimmte Gruppen zu verdrängen -darunter fallen zum Beispiel die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime.

Den Kindern Angst nehmen und Sicherheit geben

Das alles mündet in Normalisierungsgewinne, die gefährlichste Eskalationsstufe, weil dadurch die demokratische Kultur laut Heitmeyer ins Wanken gerät. Es ist jene Stufe, in der rechtspopulistische und fremdenfeindliche Äußerungen, die früher undenkbar waren, als normal gelten. Diese Stufe sei zwar noch nicht erreicht, durch die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime wie zuletzt in Altenfelden in Oberösterreich und Morddrohungen kündigt sich aber laut Heitmeyer eine schleichende Brutalisierung der Gesellschaft an.

"Wo Menschen sind, gibt es Vorurteile. Viele davon sind falsch, und manche sind gefährlich, weil sie zu Ausgrenzung, Hass und Gewalt führen können. Das beste Mittel dagegen ist eine Erziehung, die Kindern Angst nimmt, Sicherheit gibt und sie Neuem gegenüber offen macht", rät Radauer.

Heitmeyer tendiert eher dazu, bei den über 60-Jährigen anzusetzen, weil diese Altersgruppe die Vorurteile reproduziere. Mindestens genauso wichtig sei es aber auch, die persönlichen Kontakte zum Beispiel zu Flüchtlingen zu forcieren - damit die abstrakte Form eines Feindbildes ein entwaffnendes Gesicht bekommt.