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Deutsch, Mathe und kritische Partizipation

Von Nina Flori

Politik

Mehr als 1000 nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge und Asylwerber zwischen 15 und 21 Jahren besuchen das im Sommer gegründete Jugendcollege. Ziel ist es, sie in eine weiterführende Schule oder eine berufliche Ausbildung zu vermitteln.


Wien. "In Lisas Familie wagte sich noch kein Mann ans Bügeln." Diesen Satz schreibt ein junger Flüchtling im A2 Deutschkurs einer Jugendcollege-Klasse in der Spitalgasse im 9. Bezirk in Wien, an die Tafel. Die Lehrerin diktiert den Satz. Es geht zum einen um Verben, die als Nomen verwendet und daher groß geschrieben werden. Zum anderen wird bei dieser Gelegenheit über die Rollenverteilung in Familien diskutiert.

775 Schüler und 239 Schülerinnen besuchen derzeit das seit Sommer existierende Start Wien Jugendcollege, das von der Stadt Wien, dem AMS und dem Europäischen Sozialfonds finanziert wird und einen Standort im 9. und einen im 10. Bezirk betreibt. "Zu uns kommen Jugendliche, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind. Wir versuchen herauszufinden, welche Bildung sie schon haben und was sie noch brauchen", sagt die Projektleiterin des Start Wien Jugendcolleges Maria Steindl im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Die 16-jährige Mawra ist eine der Schülerinnen, die seit zwei Monaten täglich vier Stunden in der Spitalgasse Unterricht hat. Sie kommt ursprünglich aus Qamischli, einer kurdischen Stadt im Nordosten Syriens. Erst im Sommer sind nach der Explosion einer Autobombe dort 55 Menschen gestorben, mehr als 160 wurden verletzt. "Ich möchte eine Lehre zur Bürokauffrau machen", sagt Mawra. Ihr Deutsch ist schon ziemlich gut. Sie ist vor zwei Jahren nach Wien gekommen, hat bereits Asyl und lebt mit ihrer Familie im 5. Bezirk. Eineinhalb Jahre war sie in einer Neuen Mittelschule, für eine Lehre fehlt ihr nun der Pflichtschulabschluss.

Die Kurse für Pflichtabschlüsse sind zurzeit allerdings alle voll. Bis ein Platz für Mawra frei wird, lernt sie im Jugendcollege daher weiter Deutsch, hat Mathematik- und Englischunterricht und nimmt auch an Fächern wie "Kritsche Partizipation" teil. "In diesem Fach werden Themen wie Werte, Diskriminierung, Rassismus, Religion, Kultur und Genderfragen besprochen", sagt Steindl. "Die Jugendlichen bei uns sind zwischen 15 und 21 Jahre alt. Sie stellen sich viele Fragen und brauchen eine Auseinandersetzung mit diesen Themen."

Entsprechend der Fluchtbewegung ist der Großteil der Schüler männlich. Knapp die Hälfte der Jugendlichen kommt aus Afghanistan, viele stammen aus Syrien, einige aus Somalia, dem Irak, Iran, Rumänien, Gambia und dem Kongo. Bei der Einteilung der Klassen werde aber darauf geachtet, dass in jeder Klasse mindestens drei Mädchen sind, sagt Steindl. Für viele Jugendliche ist das ungewöhnlich. In Syrien etwa würde man Buben und Mädchen in der Schule mit zwölf Jahren trennen, sagt Mawra.

Hoffnung auf eine Lehrstelle in einem Hotel oder Restaurant

Auch der 20-jährige Hamza kommt aus Syrien. Er habe in Damaskus gelebt und sei vor der IS geflohen, erzählt er. Vor zehn Monaten ist er mit seinem Cousin und seinem Bruder nach Österreich gekommen. Jetzt lebt er mit seinem Bruder in einer Wohnung im 16. Bezirk. Die Eltern sind in Damaskus geblieben. "Sie wollen nicht kommen. Sie haben kein Geld", sagt Hamza. In Syrien habe er in einem Restaurant, im Supermarkt und auf einer Baustelle gearbeitet. Nun hofft er auf einen positiven Asylbescheid und eine Lehrstelle in einem Hotel oder Restaurant. "Hamza hat in den vergangenen Monaten extrem viel dazu gelernt", sagt Steindl. "Als wir uns kennengelernt haben, konnte er wenig sagen. Jetzt geht es schon viel besser."

Zwischen Alphabetisierung und Maturaniveau

Die Niveauunterschiede zwischen den einzelnen Schülerinnen und Schülern im Jugendcollege sind groß. Etwa einem Zehntel fehlen jegliche Grundkenntnisse, sie müssen erst lesen und schreiben lernen. Manche seien aber auch sehr weit und könnten zur Matura antreten, wenn sie gut genug Deutsch könnten, sagt Steindl.

Um herauszufinden, wer wo steht, wurden im Sommer 1230 Jugendliche in drei Clearingphasen auf ihre Kenntnisse und Fähigkeiten geprüft. Etwas mehr als tausend sind nun im Jugendcollege. Bedarf an einer beruflichen Ausbildung oder einer weiterführenden Schule hätten in Wien allerdings insgesamt 5000 Jugendliche. Für alle reichen die sechs Millionen Euro jährlich, die in das Bildungsprojekt investiert werden, allerdings nicht. "Wir sind aber ständig in Bewegung. Wenn jemand eine Lehrstelle bekommt oder in einen Kurs für einen Pflichtabschluss aufgenommen wird, wird bei uns auch wieder etwas frei", sagt die Projektleiterin. Dann könne jemand von der Warteliste nachrücken.

Geplant ist, dass die Jugendlichen im Schnitt neun Monate im Jugendcollege bleiben. Alle acht Wochen wechselt der Stundenplan, um die Ausbildung möglichst individuell und flexibel zu gestalten. Berufspraktische Tage und Spezialmodule wie Natur, Gesundheit und Soziales oder Werkstättenunterricht sollen den Jugendlichen helfen, die berufliche Richtung zu finden, in die sie sich entwickeln möchten.