Wien. Die EU befindet sich in einer fundamentalen Krise. Es ist wohl die schwierigste Bewährungsprobe seit ihrer Gründung. Diese Erkenntnis mag für Beobachter alles andere als neu sein - für die Spitzen der europäischen Gewerkschaftsbewegung ist sie nun Anlass zu einer gemeinsamen Anstrengung.
Einen Mitanstoß zur Debatte, was sich sozialpolitisch in Europa ändern müsse, lieferte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) wohl bereits mit seinem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ), in dem er eine Abkehr von der rigiden Austeritätspolitik und eine Investitionsoffensive forderte. Dafür musste der Kanzler herbe Kritik einstecken, vor allem vom Koalitionspartner ÖVP. Einen "linken Ideologieträger" nannte ihn Finanzminister Hans Jörg Schelling. In der Zwischenzeit hat sich Kern offenbar darangemacht, eine Allianz zu schmieden. Am Dienstag, anlässlich des Generalrats des internationalen Gewerkschaftsbundes, präsentierte er zusammen mit dem deutschen SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel, dem schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven sowie ÖGB-Präsident Erich Foglar und dessen deutschem Pendant Reiner Hoffmann einen "europäischen Pakt für sozialen Fortschritt".
Dass die Spitze der europäischen Sozialdemokratie gerade jetzt aktiv werden will, ist kein Zufall. Der Beweggrund sei der drohende Siegeszug der Rechtspopulisten, gab Sigmar Gabriel, dessen Antreten als SPD-Spitzenkandidat bei der deutschen Bundestagswahl 2017 im Raum steht, offen zu. Wir alle seien "Zeugen einer Neuvermessung der Welt", und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch politisch. Europa stehe am Scheideweg, wenn es so weitergehe wie bisher, könne ein Scheitern nicht mehr verhindert werden, so der gemeinsame Tenor der Sozialdemokraten. "Wir schauen in einen Abgrund", pflichtete Kern bei, wohl ganz unter dem Eindruck der aktuellen Stärke der FPÖ.
Investitionen möglich machen
Ein zehn Punkte umfassender Plan für einen grundlegenden Wandel der Politik auf europäischer Ebene soll den Triumph der europäischen Rechtsparteien, und damit ein Ende des europäischen Projekts, verhindern. 15 europäische Schwesterparteien würden bereits an dem Projekt mitarbeiten. Die vier Grundfreiheiten der Union - freier Dienstleistungs-, Kapital-, Personen- und Warenverkehr - dürften nicht länger auf Kosten der Arbeitnehmer gehen. Zu den vier Grundfreiheiten soll deshalb eine "fünfte, soziale Säule" dazukommen, sagte Kern am Dienstagvormittag vor Journalisten in der SPÖ-Parteizentrale.