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Alleingelassen im Sozialstaat

Von Bettina Figl

Politik

Im AKH Wien kam es im Fall von zwei schwerkranken Mädchen zu Verzögerungen bei der Behandlung.


St. Pölten. Zwei Mädchen sind schwer krank, und trotzdem dauert es Wochen, bis sie behandelt werden. Grund dafür ist, dass sie bis heute keinen Erziehungsberichtigten haben, der für sie verantwortlich ist. Shogufa, 13, und ihre Schwester Nahid, 12, leiden an Neurofibromatosis. Das ist eine vererbbare Multiorganerkrankung, bei der den Betroffenen Tumore wachsen. Nahid wächst ein Tumor am Hals, bei ihrer Schwester Shougufa bestand seit dem Vorjahr der Verdacht auf einen Gehirntumor, der sich vor wenigen Wochen bestätigt hat.

Zwischen Erstuntersuchung und Chemotherapie liegen Monate

Seit Sommer 2016 befinden sich die Mädchen aus Afghanistan in Österreich, zuerst im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, dann wurden sie fünf Mal von einer Betreuungseinrichtung in die nächste verschoben. Obwohl ihre Krankheit bekannt war, hat Shougufa erst vor kurzem mit ihrer Chemotherapie begonnen. Dass es vom Verdachtsfall bis zur Diagnose so lang gedauert hat, liegt daran, dass niemand Obsorge hatte. Dadurch haben sich wichtige Untersuchungen am AKH Wien verzögert. Der Radiosender "Ö1" und das Magazin "Profil" haben berichtet, die "Wiener Zeitung" ist dem Fall weiter nachgegangen.

Laut einem Urteil des Oberen Gerichtshofes aus dem Jahr 2005 haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich erst nach sechs Monaten ein Anrecht auf Obsorge. Um Obsorge zu bekommen, muss zuerst ein Antrag gestellt werden. Im Falle der beiden Flüchtlingsmädchen ist das bis vor kurzem nicht geschehen. Die zuständige Bezirkshauptmannschaft Baden will die Obsorge nicht übernehmen, sondern drängt darauf, dass der ältere Bruder der beiden Mädchen, Ahmad, als Erziehungsberechtigter einspringt.

Die Behörden in Baden betonen, die beiden Flüchtlingsmädchen seien gar nicht unbegleitet, weil sie ja mit ihrem Bruder nach Österreich gekommen sind. Das ist kein Einzelfall: Von 9000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die im Jahr 2015 nach Österreich gekommen sind, kommen etwa zehn Prozent in Begleitung eines Volljährigen. Doch ältere Geschwister, die oft traumatisiert sind und meist nicht Deutsch sprechen, sind nicht immer in der Lage, die Obsorge zu übernehmen.

Lausbefall: Mädchen sind völlig verwahrlost

Laut einem Handwurzelröntgen ist Ahmad 18 Jahre alt und damit volljährig. Doch Ahmad beharrt darauf, er sei erst 16 Jahre alt und fühle sich nicht bereit, die Obsorge für seine beiden Schwestern zu übernehmen. Seine Betreuer sagen ebenfalls, dass er dazu nicht in der Lage dazu – wenngleich er sich sehr bemühe. Die Sozialarbeiter beschreiben, dass sie die Mädchen verlaust vorfanden, da diese sich offensichtlich tage- oder wochenlang nicht gewaschen hatten.

"Nahid wurde heute entlaust, geduscht und zur Mundhygiene abgeleitet. Der Lausbefall war so stark, dass Teile der Haare stark verfilzt waren und auf der Kopfhaut bereits deutlich sichtbare Irritationen sind", heißt es in einem der Protokolle der Sozialarbeiter. Ein Bursche, der seine Schwestern nicht dazu bringen kann, sich die Zähne zu putzen und zu waschen, soll also für sie lebenswichtige medizinische Entscheidungen treffen.

Da es keinen Erziehungsberechtigten gab, der etwa die Einwilligung für das MRT geben konnte, verzögerten sich die Untersuchungen, der Gesundheitszustand der Mädchen verschlechterte sich. "Hätten die Ärzte gewusst, dass sie einen Tumor hat, hätten sie sich über die Obsorge hinweggesetzt", sagt Katharina Glawischnig, die in der Asylkoordination für minderjährige Flüchtlinge zuständig ist. Denn in einem medizinischen Notfall müssen die Ärzte handeln – auch ohne der Unterschrift eines Erziehungsberechtigten.

"Frühere Untersuchung hätte zu keinem anderen Ergebnis geführt"

"Wenn wir über den gesundheitlichen Zustand der Mädchen Bescheid gewusst hätten, hätten wir viel früher behandelt", soll einer der behandelnden Ärzte als Begründung angegeben haben, warum sie die erforderlichen Untersuchungen nicht zeitnah durchführen konnten. Das war, bevor der Fall an die Medien ging. Nun werden Medienanfragen nur noch von der Rechtsabteilung des AKH Wien beantwortet. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es: "Die gutartige Erkrankung hat sich nach Auskunft der behandelnden Ärzte im Laufe der letzten Monate nicht verändert, das heißt, dass ein früherer Untersuchungsbeginn zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte."

Den mit dem Fall betrauten NGOs ist kein anderer Obsorge-Fall in dieser Dimension bekannt. Doch bereits in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die ungeklärte Obsorgefrage nachreiche Folgen haben kann. Nachdem vor einigen Jahren ein afghanischer Flüchtling in der Donau bei Klosterneuburg ertrunken ist, wollte eine Schwimmschule Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anbieten. Doch aufgrund fehlender Erziehungsberechtigter mussten die Schwimmstunden wieder abgesagt werden.

Die Volksanwaltschaft prüft den Fall. Volksanwalt Günther Kräuter sagt aber: "Die Bezirkshauptmannschaft Baden hätte die Obsorge übernehmen, und die gesundheitsnotwendigen Veranlassungen treffen müssen. Im Zweifel muss eine Behörde initiativ sein und nicht sagen ‚da gibt es eh einen 18-jährigen Bruder‘", so Kräuter, und betont: "Der Schutz von Kindern und Jugendlichen steht laut UN-Kinderrechtskonvention immer im Vordergrund."

Der Fall ist laut Diakonie und Anwälten "völlig rechtswidrig"

"Dass die Bezirkshauptmannschaft Baden die Obsorge nicht übernehmen will ist völlig rechtswidrig", sagt auch Christoph Riedl, Asyl-Experte der Diakonie. Die Diakonie verwaltet die Betreuungseinrichtung, in der die drei Geschwister leben.

"Das widerspricht ganz klar dem gesetzlichen Auftrag, das Wohl des Kindes zu wahren", gibt auch die mit dem Fall vertraute Anwältin Julia Kolda zu bedenken. "Es gibt die Möglichkeit der Geschwisterobsorge, aber das Gesetz sieht es vor, dass das Wohl des Kindes immer oberste Priorität hat."

"Ob ein vermeintlich 18-Jähriger dazu in der Lage ist, sich um seine Schwestern zu kümmern, ist fraglich, noch dazu wenn sie einen großen medizinischen Bedarf haben. Auch ein 20-Jähriger wäre damit überfordert", sagt Glawischnig. Die Expertin der Asylkoordination fordert daher "Verantwortung ab dem ersten Tag".

Die Diakonie hat im Jänner einen Obsorgeantrag eingebracht: Sie ist der Ansicht, dass die Kinder- und Jugendwohlfahrt die Obsorge beantragen soll.

Die Behörden in Baden jedenfalls sind weiter der Ansicht, dass Ahmad der gesetzliche Vormund sein sollte. "Mit entsprechender Unterstützung wäre das auf jeden Fall möglich", sagt ein Sprecher der Bezirkshauptmannschaft Baden auf Anfrage der "Wiener Zeitung", und betont: "Wir schicken regelmäßig Sozialarbeiter, wir haben genaues Bild der Situation."

Die von den Sozialarbeitern festgestellte Verwahrlosung der Schwestern könne er "so nicht bestätigen". Inzwischen hat Ahmad sogar die Obsorge für seine Schwestern beantragt. Dieser Sinneswandel dürfte damit zu tun haben, dass die Behörden in Baden ihm sagten, er würde ansonsten von seinen Schwestern getrennt werden. Die Entscheidung, ob er Obsorge bekommt, obliegt dem Justizgericht Baden.