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"Kümmert euch um euren eigenen Mist"

Von Jan Michael Marchart und Werner Reisinger

Politik
Die Simmeringer Hauptstraße im 11. Wiener Gemeindebezirk: Hier reiht sich ein türkisches Geschäft an das nächste. Viele hier sympathisieren mit dem türkischen Premier Erdogan. 
© Mehmet Emir

73 Prozent jener Türken, die zur Abstimmung gingen, sind für Erdogans Machterweiterung. Ihre Motive sind vielfältig.


Wien. "Little Istanbul" nannte der FPÖ-Bezirksvorsteher des 11. Wiener Gemeindebezirks, Paul Stadler, die Simmeringer Hauptstraße. Ein türkischer Laden neben dem anderen, Stadler will sie lieber auf den ganzen Bezirk aufgeteilt sehen. Freilich, gegen die Türken und türkischstämmigen Geschäftsinhaber selbst habe niemand etwas, sagt der blaue Bezirkschef. Die Leute seien fleißig.

Der Ausgang des Referendums vom vergangenen Sonntag in der türkischen Community lässt in Simmering niemanden kalt. 73 Prozent jener Türken, die zur Abstimmung gingen, stimmten für Erdogans Verfassungsreform, die ihm umfassende Kompetenzen sichert und seine Macht noch stärker einzementiert. Europaweit hat Erdogan nur in Belgien noch mehr Rückhalt, hier stimmten fast drei Viertel für "Evet", also für "Ja". Warum?

"Das hat mit der Situation in Europa zu tun", sagt ein Gast in einem Grilllokal nahe der Strachegasse in Simmering. Was er genau damit meint, will der Herr um die vierzig nicht ausführen. Dass aus der Türkei eine Diktatur wird, glaubt er nicht. Er weist auf das knappe Ergebnis der Abstimmung hin und darauf, dass in den großen Städten wie Istanbul oder Izmir die überwiegende Mehrheit gegen Erdogans Pläne votiert hat: "Erdogan wird das nun auch berücksichtigen müssen. Ich denke nicht, dass die Verfassungsreform so kommt wie geplant. Das Gesetz wird nochmals überarbeitet werden."

Musab (15) wünscht sich, dass die Türkei noch stärker wird. 
© Mehmet Emir

Der 15-jährige Musab glaubt nicht, dass sich die Türken in Österreich diskriminiert fühlen und deshalb in der Heimat den "starken Mann" wollen. "Erdogan baut Infrastruktur, wie zum Beispiel Flughäfen. Wir wollen, dass die Türkei noch stärker wird", sagt er. Viel eher habe das deutliche Pro-Erdogan-Votum in Europa mit dem politischen Verhalten der europäischen Staaten zu tun. Er nennt das Beispiel der Niederlande, wo Premier Mark Rutte im Wahlkampf die türkische Familienministerin hinausgeworfen hatte – wohl nicht ohne Hintergedanken.

Erdogan und der Waldheim-Effekt

Schauplatzwechsel: Ottakring, Thaliastraße. Der Westen sei Erdogan in die Falle getappt, ist sich der Betreiber eines gut besuchten Friseurladens sicher. Im Falle der Eskalation zwischen der Türkei und den Niederlanden hätten beide Kontrahenten profitiert: "Erdogan hatte seine Eskalation, die er für den Wahlkampf brauchte, und der Niederländer musste ja den Rechtspopulisten Wilders verhindern", sagt der Friseurmeister. Ob all das wirklich so ernst war, sei gar nicht sicher: "Wir wissen ja nicht, was hinter den Kulissen wirklich gelaufen ist."

In Österreich hätten jedenfalls die Boulevardblätter Erdogans Geschäft erledigt, ist man hier überzeugt. "Jeden Tag der ‚Sultan Erdogan‘ am Cover, da fühlt man sich angegriffen", sagt der Chef. Das Votum sei die Reaktion darauf. "Denken Sie an Waldheim. Da wurde auch das ganze Volk attackiert, aus dem Ausland." Schließlich seien alle Türken, egal wie sie zu Erdogan stehen würden, "ein wenig nationalistisch". Erdogan wisse das, und habe das ausgenutzt. "Er ist einer der schlausten Politiker der Welt", pflichtet ein Kunde bei. Und überhaupt, in den 90er Jahren habe man für ein Kilo Zucker noch stundenlang anstehen müssen. Erdogan habe das Land modernisiert, es seien tausende Kilometer Autobahn gebaut worden. Heute gebe es ein "super Gesundheitssystem".

Angst vor Erdogans Spitzeln

Auch im Ottakringer Friseursalon ist man sich sicher: Erdogan wird sich jetzt bemühen, das Land wieder zu vereinen. Dass es in Österreich verstärkt zu Spannungen kommen könnte, etwa mit den Kurden oder anderen Erdogan-Gegnern, wie es in den Wochen nach dem vereitelten Militärputsch in der Türkei immer wieder der Fall war, glaubt man nicht. Außerdem habe ja nur rund jeder zweite Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben. In einem kemalistischen Kulturverein macht man dafür zwei Gründe aus: "Viele Leute haben Angst vor Erdogans Spitzeln oder auch, weil sie illegaler Weise beide Staatsbürgerschaften haben. Außerdem interessieren sich viele junge Leute von uns einfach nicht für Politik", sagt ein ehemaliger kemalistischer Funktionär, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte.

Indes demonstrieren vor dem Parlament kurdische Vereine gegen Erdogans Politik und die Inhaftierung von kurdischen Politikern und Aktivisten. "Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich der Druck für die, die mit "Nein" gestimmt haben, erhöht. Viele von ihnen könnten durchaus den Weg nach Europa suchen", sagt Sahan, ein 61-jähriger Kurde. Im Gegensatz zu den Türken befürchten die Kurden sehr wohl Spannungen. Sie rechnen auch mit einer neuen Welle der Gewalt in der Türkei. "Die Türken hier in Österreich haben alles, sie bekommen Sozialhilfe, und trotzdem sind sie für Erdogans Pläne", ergänzt eine junge Demonstrantin. Geht es den Türken wirklich so gut in Österreich? Jüngsten Zahlen der Statistik Austria zu Folge sind fast 22 Prozent der türkischen Staatsbürger in Österreich arbeitslos – fast doppelt so viele wie Österreicher. Die Erwerbstätigenquote beträgt bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund nur 54 Prozent, 61 Prozent von ihnen haben nur einen Pflichtschulabschluss.

Der Westen gegen die Muslime

Zurück in Simmering, in einem Geschäft mit Alltagsgegenständen zu Tiefstpreisen. Es riecht überall nach Plastik. Angeboten wird hier fast alles, von Küchenutensilien über Billig-Schmuck, Dichtungsringe für den tropfenden Wasserhahn bis zu Stofftieren und Actionfiguren für die Kleinsten. Hinter dem Tresen steht ein 28-jähriger Türke. Gegeltes Haar, kurz an den Seiten, Goldkettchen, Jeans und Sportschuhe. Zunächst will er gar nicht sprechen. Dann aber, unter Zusicherung der Anonymität, sagt er, dass Europa Erdogan nicht verstehe. "Alles, was hier über ihn geschrieben wird, ist falsch."

Wer kritisiert, will oft anonym bleiben: "Viele Leute haben Angst vor Erdogans Spitzeln".
© M.EMIR

Vor 15 Jahren sei Istanbul noch eine Stadt "voller Dreck" gewesen. Jetzt sei alles sauber und es gebe viele Universitäten, Spitäler und die Supermärkte wären gut sortiert. "Aber das interessiert hier niemanden." Dann zieht er sein Handy aus der Hosentasche. Am Montag nach dem Referendum hat er das Cover der Zeitung "Österreich" abfotografiert. Die Austrotürken hätten für eine Diktatur gestimmt, lautet der Titel. Der junge Mann schüttelt den Kopf. "Kennen Sie eine Diktatur, in der man frei abstimmen kann?", fragt er.

Für den skeptisch-ablehnenden Blick vieler Länder auf die Türkei hat er aber eine Erklärung. "Die USA, Russland und Europa wollen die Türkei klein halten. Wie alle muslimischen Länder", sagt der junge Geschäftsmann. In Ländern wie Syrien oder dem Irak hätten sie das auch geschafft. Dort herrsche nun Krieg. Das würden jene Nationen auch in der Türkei erreichen wollen. "Nur ist das Land unter Erdogan zu stark dafür."

"Journalisten dürfen über Erdogan schimpfen"

Was sagt der bekennende Erdogan-Sympathisant dazu, dass regierungskritische Journalisten unter "seinem" Präsidenten in Gefängnisse gesperrt werden? Journalisten dürfen in der Türkei über Erdogan schimpfen, behauptet er. Jene aber, die hinter Gitter sind, seien das zu Recht, erklärt er. "Sie veröffentlichen Pläne des Staates, zum Beispiel, wenn der Waffen baut, die das Land einmal retten können. Das dürfen sie nicht", sagt er. "In anderen Ländern wirst du dafür getötet."

Dass so viele Türken in Österreich mit "Ja" gestimmt haben, hätte nichts damit zu tun, dass es ihnen hier schlecht geht. "Hast Du schon jemals einen Türken gesehen, der in Österreich um Geld bettelt? Uns geht es nicht schlecht. Aber viele von uns sind mit der Türkei noch immer stark verbunden."

"Ich verstehe nicht, wieso immer alle über die Türkei reden, oder über das Kopftuch. Oder darüber, was ein Trump tausende Kilometer woanders macht", empört sich der Besitzer eines Handy-Shops auf der Simmeringer Hauptstraße. Die soziale Lage hier werde immer schlechter, davon wolle man ablenken, ist der Mann überzeugt. Jeder solle vor seiner eigenen Haustüre kehren. Dann gebe es auch weniger Krieg. "Was ist mit den Arbeitsplätzen hier, in Österreich? Kümmert euch um euren eigenen Mist."