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Wer hat hier das Sagen?

Von Simon Rosner

Politik

Die Politik fordert nach Flughafen-Urteil mehr Entscheidungsmacht - doch warum gibt sie diese dann immer wieder ab?


Wien. Man muss den Brief der Landeshauptleute an Kanzler und Vizekanzler nicht allzu ernst nehmen. Man kann aber natürlich so tun als ob. Denn der Sukkus dieses Briefes und auch die darauffolgenden Erklärungen der Landeschefs waren eine Apologetik des Primats der Politik. "Die Politik muss sich entscheiden trauen", sagte Erwin Pröll in seiner letzten Rede als niederösterreichischer Landeshauptmann. Die Politik müsse das Heft des Handelns in die Hand nehmen, und sie müsse mutig sein.

Dass die Politik Entscheidungsmacht für sich reklamiert, mag logisch erscheinen. Weil: Was denn sonst? Die Worte Prölls hätten genauso gut aus anderem Mund kommen können. Kein Minister, keine Abgeordnete, keine Bürgermeisterin würde das Gegenteil fordern.

Doch warum passiert in der Realität dann immer wieder das Gegenteil? Der konkrete Anlassfall für den Brief der Landeshauptleute war die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, den Bau einer dritten Start- und Landepiste für den Flughafen Wien zu untersagen. Damit hatte die Politik nicht gerechnet. Sie hätte aber damit rechnen müssen.

Denn schließlich war es die Politik, die diese Entscheidung erst ermöglichte, indem sie vor fünf Jahren eine damals noch von allen Parteien hochgelobte Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschloss und unabhängigen Richtern das Pouvoir gab, auf Basis der Gesetze Ermessensentscheidungen zu treffen. "Die Politik erntet, was sie normativ gesät hat", sagt der Jurist und frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner.

Das Nein zur dritten Piste inspirierte die Landeshauptleute zu ihrer Forderung, die Reform wieder zurückzudrehen. Nicht gänzlich zwar, doch es sollen wesentliche Bereiche wie das Umweltrecht der Kompetenz der Gerichte entzogen werden. Wie gesagt: Das Heft des Handels in die Hand nehmen, mutig sein, Entscheidungen treffen.

Als Antithese dieser Handlungsanleitung kann man jedoch den Umgang der Parteien mit der Bundesverfassung verstehen, zumindest in den vergangenen Jahrzehnten. Es war nicht politischer Mut, der die Grundlage zu mehr als einhundert Verfassungsänderungen in der Zweiten Republik bildete, sondern häufig sein Gegenteil: Furcht - die Furcht, dass in anderen politischen Konstellationen ein zuvor mühsam errungener Kompromiss zwischen SPÖ und ÖVP mit einfacher Mehrheit wieder zurückgenommen werden kann. Bisweilen war und ist es auch einfach nur Symbolpolitik, die zu neuen Gesetzen im Verfassungsrang führt, die Definition des "umfassenden Umweltschutzes" als Staatsziel-Bestimmung 1984 kann man als Beispiel heranziehen.

Kehrseite der Stabilität

Genau diese Passage und ihre legistischen Folgen ("Gesetz für Nachhaltigkeit, Tierschutz, umfassender Umweltschutz) flossen in die Begründung der Richter zur Ablehnung der dritten Piste ein. "Man kann nicht alles Mögliche in die Verfassung hineinschreiben und dann glauben, dass es keine Konsequenzen hat", sagt Jabloner.

Dass die Politik über die Jahrzehnte so viele verfassungsrechtlich geschützte Regelungen geschaffen hat, die nur schwierig wieder verändert werden können - zumal sich die dafür nötigen Mehrheitsverhältnisse verschoben haben -, hat natürlich auch eine andere Seite. "Wir haben auch aus guten Gründen ein politisches System geschaffen, in dem die diversen Ebenen sich gegenseitig kontrollieren sollen", sagt der Politikwissenschafter Peter Filzmaier. Aus der Bundesverfassung, überfrachtet wie sie auch sein mag, spricht auch Stabilität, vor allem im Vergleich zu Ländern mit Mehrheitswahlrecht.

Filzmaier erinnert an das Jojospiel bei der Privatisierung der britischen Bahn - je nachdem, ob gerade Labour oder Tories an der Macht waren. Auch in den USA ist dieses Hin und Her zu beobachten. Donald Trump hatte bereits im Wahlkampf sinngemäß angekündigt, nahezu die gesamte Legislaturperiode seines Vorgängers in wenigen Wochen ungeschehen machen zu wollen. "Dieser Zickzack-Kurs ist natürlich der Schlechteste", sagt Filzmaier.

Neue Staatsziele?

Dass sich Politiker auch hierzulande gelegentlich eines solchen Zickzack-Kurses zeihen, bedeutet nicht, dass das Land einen solchen vollführt. Nein, legistisch gesehen fließt die Republik donaugleich dahin und sie ist mittlerweile auch längst ähnlich reguliert wie ein gezähmter Fluss. Was allerdings auch bedeutet: Neue Wege zu gehen, wird nahezu verunmöglicht.

Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit war einer jener Ausbrüche, die das Land doch ab und zu erlebt, die in weiterer Folge dann aber offenbar auch die Politik selbst tief verunsichert. Als Alternative zum Zurückdrehen dieser Reform schlug die Regierung nun eine neue Verfassungsbestimmung vor. Neben dem Umweltschutz (und einigen anderen Bereichen) soll auch die Stärkung des Wirtschaftsstandortes zu einer Staatsziel-Bestimmung werden. "Das ist ein Unfug", sagt Jabloner. "Das erweitert noch den Spielraum der Gerichte." Und auch Filzmaier wundert sich über den Vorstoß. "Dann wäre man in der freien Interpretierbarkeit. Die Frage ist ja: Soll die Politik oder sollen unabhängige Richter diese Entscheidung treffen?"

Eine Abwägung zwischen mehreren und sich bisweilen widersprechenden öffentlichen Interessen ist grundsätzlich schwierig. Die Landeshauptleute reklamieren diese Entscheidungsbefugnis jedenfalls für sich beziehungsweise generell für die Politik, da politische Vertreter genau dafür gewählt worden seien. Das sei ein legitimes Argument, sagt auch Filzmaier. Zu beachten ist allerdings auch, wie Jabloner sagt, dass etwa im konkreten Fall des Flughafens die Länder (NÖ und Wien als Co-Eigentümer, Anm.) auch Projektbetreiber seien und dann via ihrer eigenen Verwaltungsinstanzen darüber entscheiden müssten. "Das muss zu Spannungen führen", sagt Jabloner.

Politik der Automatismen

Und bemerkenswert ist auch, dass es die Politik bei anderen Themen nicht so ernst mit der Wahrung der Entscheidungsbefugnis nimmt. Die Abschaffung der kalten Progression, die im Grundsatz vereinbart ist, nimmt der Politik den Spielraum, Mehreinnahmen wieder zu verteilen und also: Politik zu machen. Diskutiert, vor allem auf von der ÖVP, wird immer wieder eine Pensions-Automatik, und der neue Landeshauptmann in Oberösterreich, Thomas Stelzer, hat für sein Land eine Schuldenbremse angekündigt. Auch auf Bundesebene wurde eine solche bereits debattiert - natürlich im Verfassungsrang, wenn schon, denn schon -, wobei es ohnehin bereits Defizitvorgaben aus Brüssel gibt. All diese Ideen schränken aber eben immer auch die Handlungsmacht der Politik ein.

Es ist also verwirrend. Will die Politik jetzt Politik machen oder lieber nicht? Streben die Regierungsparteien möglichst umfassende Entscheidungsbefugnisse an oder sind sie von den ewigen Diskussionen so entscheidungsmüde geworden, dass sie froh wären, wenn ihnen Automatismen einige Entscheidung abnehmen.

Und warum auch nicht? Gelingt es, gewisse Themen außer Streit zu stellen, bleiben mehr Ressourcen für andere Bereiche. Derzeit, so Filzmaier, sei die Blockiermacht in Österreich größer als die Umsetzungsmacht. Eben auch, weil keine politische Ebene über genügend Machtbefugnis verfügt. "Auf Bundesebene haben wir die paradoxe Situation, dass wirklich klare Entscheidungen fast nur in den kurzen Phasen von Mitte-links- oder Mitte-rechts-Koalitionen getroffenen wurden", sagt Filzmaier.

Enger Handlungsspielraum

Aus Sicht des Wahlforschers stellt diese Situation insofern ein Dilemma dar, da drei zentrale Wahlmotive Entscheidungskompetenz, Umsetzungsstärke und Leadership seien, sagt Filzmaier. Der Handlungsspielraum von nationalen Regierungen ist aber ohnehin deutlich geringer geworden. Und das hat weder mit der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit noch mit vereinbarten Automatismen zu tun. Der Spielraum nationaler Politik wird durch EU-Richtlinien und EU-Recht eingeengt, wie die Regierung gerade bei ihrer Idee, die Familienbeihilfe für im Ausland wohnhafte Kinder zu kürzen, erkennen muss. Andererseits sind die großen Themen der vergangenen Jahre - Euro-Krise, Migration und Flucht, Globalisierung - kaum national zu regeln.

Und dies trifft natürlich genauso auf den Klimawandel zu. Dessen Eindämmung war ja auch Argument für die Entscheidung der Richter in Sachen Flughafen. Klar: Diese Maßnahme allein wird den Klimawandel nicht aufhalten. Aber was, wenn in jedem Land Politiker Standortfragen über Umweltinteressen stellen?