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Ein Dorf zum Lernen

Von Cathren Landsgesell

Politik
Colearning Wien orientiert sich an der Laising-Methode, und integriert Ansätze der Montessori-Pädagogik. Gelernt wird interessegeleitet.
© Simon Rainsborough

An einem Ort lernen, arbeiten, leben – Colearning Wien zieht in den "Markhof" und realisiert das Dorf in der Stadt. Gelernt wird ohne Stundenplan, in Gruppen und orientiert an den Bedürfnissen der Schüler und Schülerinnen.


Wien. Im dritten Bezirk von Wien, in der Markhofgasse, nur ein paar hundert Meter von der Südosttangente entfernt, entsteht in den Gebäuden einer ehemaligen Druckerei eine neue Schule: Der "Markhof". Klassenräume wird es hier nicht geben, denn die neue Schule ist ein Projekt von "Colearning Wien". Schule bedeutet deshalb sehr viel. Schule, das ist eine ganze Welt: Der Markhof wird viele Lernräume haben, Werkstätten, die allen offenstehen, eine Galerie für Künstler, Platz für Turnen, Yoga und Meditation, eine Küche für die Lernenden, eine FoodCoop, wo man Lebensmittel kaufen kann und Coworking-Arbeitsplätze für Kleinst-Unternehmer und -Unternehmerinnen. Außerdem noch einige Wohnungen. Und ein kleines Café. Der Markhof soll ein "Dorf in der Stadt" werden. "Unser Fokus ist nicht das Lernen", sagt Roland Dunzendorfer. "Oder jedenfalls nicht das, was man gemeinhin unter Lernen versteht. Wir haben in den letzten zwei Jahren gemerkt, es geht nicht ums Lernen. Es geht ums Leben."

Im Moment sind die Umbauarbeiten noch in vollem Gange. Sobald die Transformation der ehemaligen Druckerei zur Schule abgeschlossen ist, wird Colearning Wien von der "Hutfabrik" im 6. Bezirk in den 3. Bezirk umziehen. Am 24. Mai soll es soweit sein. Dann beginnt das große Experiment "Dorf in der Stadt", der Versuch, das Lernen wieder mit dem richtigen Leben in Verbindung zu bringen. "Die Schule als Lernanstalt, das Büro und Fabrik als Arbeitsstätten und das Wohnen quasi als Schlafstätte – wir wollen diese Trennungen aufheben, die wir von der Industriegesellschaft geerbt haben", sagt Stefan Leitner-Sidl, der Colearning Wien gemeinsam mit Roland Dunzendorfer und Florence Holzner im Herbst 2015 initiiert hat. Bei dem Projekt Colearning hatte sich sehr schnell gezeigt, dass die vollen Potenziale, die das gemeinsame offene Lernen hat, nicht ausgeschöpft werden können, wenn es nicht ausstrahlen kann auf andere Bereiche des Lebens weil die Verbindung zur Gesellschaft fehlt.

Colearning Wien ist bürokratisch betrachtet keine Schule, sondern ein Verein. Roland Dunzendorfer, Florence Holzner und Stefan Leitner-Sidl sind Eltern. Gemeinsam haben sie neun Kinder, denen sie vor zwei Jahren die Regelschule nicht bzw. nicht mehr antun wollten. "Es geht in der Regelschule nicht um Interessengeleitetes Lernen. Gelernt wird mit Vorgaben, mit Belohnung und mit Bestrafung. Die ständige Bewertung, das Damokles-Schwert des Nicht-Genügens – das macht was mit einem. Man kann nicht einfach sagen ‚uns hat es ja auch nicht geschadet‘. Wir wissen ja gar nicht wie sehr es uns geschadet hat! Wenn es uns nicht geschadet hätte, dann hätten wir jetzt eine solidarischere Gesellschaft, in der jeder Verantwortung übernimmt", sagt Stefan Leitner-Sidl. Die drei Eltern gründeten den Verein Colearning Wien, fanden Gleichgesinnte und etablierten das Konzept des gemeinschaftlichen Lernens jenseits von Altersgrenzen, Klassenräumen und Schulnoten. Colearning Wien wuchs sehr schnell. Die heute insgesamt 35 Kinder zwischen fünf und 16 Jahren sind im so genannten "häuslichen Unterricht". Einmal im Jahr müssen sie eine Externistenprüfung machen, um zu belegen, dass sie alle Lerninhalte der Regelschule beherrschen.

Forschend lernen

Das Lernkonzept von Colearning Wien orientiert sich an der Laising-Methode und integriert Ansätze der Montessori-Pädagogik. Der wichtigste Unterschied zu konventionellen Lernformen ist das eigenständige Lernen in Gruppen. Diese Gruppen sind altersübergreifend. Die Kinder lernen selbstständig und voneinander. Oft werden so genannte Schaubilder zur Hilfe genommen, im Prozess des Lernens entstehen. Sie bilden alles ab, was eine Gruppe zu einem Thema erarbeitet. Die Schaubilder werden dann an die nächste Lerngruppe weitergegeben. Oftmals verpackt in eine Erzählung. Das Geschichten-erzählen sei ein ganz zentrales Element des Colearnings, wie Stefan Leitner-Sidl sagt. Es ermöglicht jedem einzelnen Kind darzustellen, was es über ein Thema weiß, und dieses Wissen mit anderen zu teilen.

Fächer spielen beim Colearning eine untergeordnete Rolle. Geht es zum Beispiel um Mathematik, lernen die Kinder das ganze Gebiet der Mathematik kennen, nicht nur den Teil, der vielleicht gerade in einer bestimmten Schulstufe vorgesehen wäre. Sie lernen dabei voneinander. Wer bereits viel weiß, etwa verschiedene Rechenarten beherrscht, vermittelt dieses Wissen an diejenigen, die noch nichts wissen. Damit wird vorhandenes Wissen vertieft, vor allem aber findet das Lernen im Beziehungskontext statt und ist damit wesentlich effektiver. Davon zumindest ist Colearning Wien im Anschluss an neuere Forschungen überzeugt.

Wenn der Markhof fertig ist, wird es nicht nur eine "Schule" geben, sondern auch insgesamt 45 Coworking Plätze. Das sind Arbeitsplätze mit Internetanschluss, die von externen Coworkern gemietet werden können. Der größte Teil davon wird als "Flex-Desk" vergeben. Diese Coworker haben dann keinen fixen Arbeitsplatz, sondern wechseln zwischen den Schreibtischen hin und her. Neben diesen Büro- und Computerarbeitsplätzen entstehen am Markhof noch Werkstätten und Ateliers sowie eine Galerie. Diese sind für die Lernenden, stehen aber Künstlern, Handwerkern und generell Interessierten offen. Ebenso die Räume für Turnen, Yoga oder Meditation. Das Café soll zusätzlich noch Menschen anziehen, die einfach eine Pause machen möchten. "Das werden Leute sein, die diese ganze Philosophie mitragen und die es dann auch nicht stört, wenn Kinder im Hof spielen", sagt Leitner-Sidl. "Im Gegenteil. Wir sehen Coworker oder die Nutzer ja auch nicht als Kunden, sondern als Mitglieder. Banal gesagt, können sie auch zu einem unserer Kinder sagen, ‚Hey, komm‘ da runter. Das ist gefährlich‘. Es sollen alle Mitverantwortung haben." Der Markhof soll ein Kinderort werden, erklärt der dreifache Vater weiter. Ein Kinderort allerdings, an dem die Erwachsenen in der Mehrzahl sind. Als Lehrende, aber eben auch als Vorbilder, als "Referenzen". "Generationenort" sei eigentlich der bessere Begriff, so Leitner-Sidl. "Ein Ort mit einem riesigen Angebot an Vorbildern, so wie es in einem Dorf auch ist."

"Wir brauchen diese Offenheit", sagt Roland Dunzendorfer. Ihm geht es um einen Effekt, den er "De-Schooling" nennt. Die "Ent-Schulung" der Schule, wenn man so will. Ein Prinzip, dass sich auch im Arbeiten fortsetzen soll. "Man könnte das ‚De-‘ vor alles setzen", sagt er. "De-Arbeiten, das würde bedeuten, nicht mehr im normalen Sinne arbeiten, sondern es eben als Projekt begreifen, an dem vielleicht auch Kinder mitarbeiten können. Oder man beteiligt als Lehrender oder Lernender an der Schule." Die Aufhebung der Grenzen zwischen lernen, arbeiten und leben soll es für die Kinder später auch leichter machen, eine Tätigkeit zu finden, die ihnen Freude bringt. Sie sollen erleben können, dass es verschiedene Berufe, Ausbildungen, Lebenswege und –entwürfe gibt. Nicht nur in der Welt außerhalb der Schule, sondern in ihrem unmittelbaren Umfeld. "Ich sage es jetzt einmal bös: Die Kinder sind nicht den ganzen Tag von Lehrern umgeben" meint Leitner-Sidl. "Meistens ist es ja so, dass man einen Berufswunsch entwickelt, weil man die Leute cool findet, die diesen Beruf machen. Also man will Architekt werden, weil der Architekt ein cooler Typ ist, nicht, weil man weiß, was es bedeutet, Architektur zu entwerfen. Durch das Coworking haben die Kinder bei uns viele Möglichkeiten, verschiedene Berufsfelder und Menschen kennenzulernen."

Veränderung bewirken

Leitner-Sidl hofft, auf diese Weise auch die Gesellschaft verändern zu können. Impulse zur Veränderung gehen oft von Kindern aus, meint er. "Es soll eine Wechselwirkung geben zwischen dem, was hier passiert und der Gesellschaft." In diesem Sinne wird der Markhof auch ein Gegenentwurf sein zu einer Gesellschaft, die Leitner-Sidl und Dunzendorfer als zunehmend individualisierte Konkurrenzgesellschaft erleben. Der Markhof soll das verändern. "Es soll ein multifunktionaler Ort sein, wo es ein ‚Wir‘ gibt, wo man ökonomisch, aber vor allem sozial voneinander profitiert." Leitner-Sidl hat bereits viele Coworking Spaces in Wien mitbegründet. Er kennt die Potenziale des gemeinsamen Tuns. "Beziehungsfähigkeit" ist das, was die Kinder seiner nach Meinung in der Schule lernen sollen, aber in der Regelschule eben nicht lernen. "Jetzt sagt man immer ‚Das sollen die Elternhäuser machen‘. Die Schule ist ja aber eigentlich das längste Trainingsprogramm, das man in seinem Leben durchläuft und man ist in einer Gruppe. Warum sollen Kinder also nicht dort lernen, was Beziehungsfähigkeit ist? Auf dem Dorf ist es selbstverständlich, dass man eine Gemeinschaft lebt, dass man einander hilft. Das wollen wir in die Stadt holen und mit urbaner Diversität verbinden."

Im Markhof wird es auch einige wenige Wohnungen geben. Eine "Kommune" in der Stadt soll das Projekt aber nicht sein. "Urbanität ist eine Ressource", sagt Leitner-Sidl. Die ökologischen Vorteile urbaner Dichte liegen auf der Hand. Carsharing, öffentliche Verkehrsmittel, gemeinsam genutzte Infrastruktur und große Wohneinheiten sind ressourcenschonender als ein Leben auf dem Land, für das oft genug ein eigenes Auto notwendig ist und das mangels Arbeitsplätzen zum Pendeln zwingt. Beim Markhof ist die U-Bahn gleich vor der Haustür; wer die Food Coop nutzt, stärkt die regionale und saisonale Landwirtschaft; vom gemeinsamen Kochen profitieren nicht nur die Kochkünste der Kinder, gemeinsam kochen hat auch eine bessere Energiebilanz.

Ein Eliteprojekt?

Die meisten Kinder, die bisher bei Colearning Wien lernen, sind Kinder von Eltern wie Roland Dunzendorfer oder Stefan Leitner-Sidl selbst. Man könnte sagen, sie gehören einer städtischen neuen Mittelschicht an, die gebildet ist und gut vernetzt. Kinder aus ‚bildungsfernen‘ Familien findet man beim Verein Colearning Wien bisher nicht. Ist der Markhof ein elitäres Projekt? "Wir haben Eltern, die mehr Geld haben, aber auch solche, die am Limit sind. Wir haben Leute aus kreativen Berufen, Handwerker und Akademiker", sagt Roland Dunzendorfer. "Wir wollen dezidiert kein Elitenprojekt sein. Wir sind auch keine Privatschule für bessergestellte Kinder." Die Eltern des Vereins haben den Umbau des Markhof selbst finanziert. Sie haben Kredite aufgenommen und weitere Finanzierung durch Crowdfunding geschafft. Der Betrieb des Markhof soll durch den Coworking Space und die Vermietung von Räumen gelingen. Dennoch: Ist das "Wir", das der Markhof stärken will, noch ein solidarisches Wir? "Den Vorwurf, wir zögen quasi unsere ‚guten‘ Kinder aus dem Regelschulwesen ab, den lasse ich nicht gelten", argumentiert Stefan Leitner-Sidl. "Wer das sagt, tut so, als sei das Regelschulsystem nicht selektiv und segregierend. Als gäbe es nicht die einen Schulen, auf die man sein Kind niemals geben würde und die anderen, die man noch ‚ok‘ findet. Nun zu sagen ‚Lasst Eure Kinder auch in dem System, damit sich dieses System ändert‘, ist illusorisch. Ich zumindest habe diese Illusion verloren. Das Bildungssystem, so wie es jetzt ist, ist nicht reformierbar. Ich habe nicht die Geduld zu warten, bis dieses System wirklich inklusiv ist, kindgerecht und zukunftsgerecht."