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Der Irrtum der Materialisten

Von Walter Hämmerle

Politik

"Die Menschen wollen moralisch geführt werden", ist die Verhaltensforscherin Elisabeth Wehling überzeugt.


Wien. Wahlkampf ist. Da denken unzählige, mal mehr, mal weniger kluge Menschen nonstop darüber nach, was die Leute wohl wirklich bewegt und wie die anstehenden Wahlen ausgehen werden: Und nach den Wahlen stehen sie verlässlich vor den Trümmern ihrer eigenen Analysen und Prognosen. Womit sich der zunehmend erschreckende Verdacht aufdrängt, dass nicht nur die Politiker der etablierten Parteien nicht verstehen, was "da draußen" vor sich geht, sondern auch die meisten professionellen Experten.

Auf der Suche nach Antworten sprach die "Wiener Zeitung" mit der kognitiven Verhaltensforscherin Elisabeth Wehling.

"Wiener Zeitung": Haben Sie das Gefühl, wir verstehen, was die Menschen bewegt, und warum sie welchen Politiker aus welchen Motiven wählen?

Elisabeth Wehling: Ich glaube, dass tatsächlich viele Politiker nicht genau genug darauf achten, dass die Bürger mit ihrer ganzen politischen Seele verstanden werden wollen. Und hier gibt es ein großes Missverständnis: Die meisten Politiker sind felsenfest davon überzeugt, dass es den Menschen um ihre materiellen Eigeninteressen geht, wenn sie sich engagieren oder eine Partei wählen. Das ist aber nicht der Fall, und wir wissen es. Die Menschen handeln gegen ihre ureigenen Interessen, deshalb ziehen sie in den Krieg, deshalb sind Reiche für höhere Steuern, deshalb sind Arme für weniger Steuern, obwohl sie dann weniger Sozialleistungen erhalten. Das ist sehr gut erforscht. Und es geht den Menschen auch nicht um faktische Argumente. Einzelne Faktenargumente sind den meisten relativ egal.

Wie wollen die Bürger dann von der Politik angesprochen werden?

Über ihr moralisches Weltbild, denn in den Kategorien "richtig" oder "falsch", "gut" oder "böse" denken und handeln wir - und zwar ausnahmslos alle, jeden Tag. Und es sind diese Moralvorstellungen, die uns auch politisch werden lassen. Ob wir politisch eher konservativ oder progressiv denken, speist sich aus unseren moralischen Vorstellungen, die wir auch im Alltag anwenden, sei es bei der Erziehung unserer Kinder, im Umgang mit unseren Partnern, im Beruf oder bei Freunden. Dass geschieht automatisch, denn diese Dinge können wir konkret erleben, abstrakte Dinge wie Staat oder Gesellschaft aber nicht.

Warum ist das so?

Viele Politiker verstehen nicht, dass Mitbürger nicht nach ihren einzelnen Interessen, sondern nach ihrer Ideologie, nach ihren Moralvorstellungen verstanden und vertreten werden wollen. Deshalb bedeutet politisches Repräsentieren auch nicht primär, im materiellen Interesse einzelner Bürgergruppen zu agieren oder einzelne für richtig gehaltene programmatische Ideen umzusetzen, sondern der moralischen Perspektive für das gesellschaftliche Miteinander zu folgen, die man den Mitbürgern etwa im Wahlkampf andient. Sobald das nicht mehr geschieht, sobald Politiker aufhören, über ihre grundlegenden Werte zu sprechen, entsteht eine riesige Kluft zwischen Politikern und Bürgern, die beiden verstehen einander nicht mehr. Politik ist nie der Streit über Fakten, sondern immer die Auseinandersetzung über Weltanschauungen. Das muss die Politik wieder verstehen und umsetzen, ansonsten wird sie weiter an den Menschen vorbei reden.

Es ist also entscheidend, dass Politik die Menschen moralisch anspricht. Und wenn es nur einen gibt, dem dies glaubwürdig gelingt, ist es dann egal, ob derjenige oder diejenige von rechts oder links politisiert? In Ermangelung moralischer Konkurrenz wäre es dann irrelevant, ob Trump oder Tsipras, Grillo oder Le Pen zur Wahl stehen, weil immer der Moralist gewinnt?

Das trifft immer nur für das jeweilige ideologische Lager zu. Trump oder Le Pen kann es etwa gelingen, das traditionelle konservative Lager auszustechen, und für die politische Linke gilt das genauso.

Ist Ideologie wirklich noch immer die entscheidende Kategorie?

Ja, allerdings ist Ideologie nicht einfach das Label "konservativ" oder "progressiv", sondern sie bezieht sich auf die Werte, die jemand vertritt - im ganz alltäglichen Leben und in der Politik. Jemand, der ein eher strenges Weltbild im Alltag hat, ist in der Regel politisch konservativer. Und jemand, der ein eher fürsorgliches Weltbild hat, eher progressiver.

Nur aufgrund dessen, ob sich ein Mensch als links oder rechts bezeichnet, wissen wir noch nichts darüber, welche moralischen Werte ihn umtreiben; aber wenn wir diese Werte kennen, können wir ihn auch politisch-ideologisch verorten. Mit solch einer Verortung erfährt man weit mehr über die politischen Maßnahmen, die einer unterstützen würde, als durch das Abfragen materieller Interessen. Und wir dürfen nicht vergessen: In Westeuropa sind zwischen 25 und 30 Prozent der Bevölkerung ideologisch flexibel, deshalb haben wir auch so viele Mitte-Parteien und Wechselwähler. Das sind auch diejenigen, die sich - wenn sie richtig angesprochen werden - politisch von der einen hin zur anderen Seite bewegen.

Es gibt die Befürchtung, und manche Daten belegen das, dass wir uns auf dem Weg in eine Zweidritteldemokratie befinden, in der sich das untere Drittel der Gesellschaft, die Ärmeren, Ungebildeteren, zunehmend von politischer Mitwirkung verabschieden. Einfach, weil sie sich von keiner Partei glaubwürdig angesprochen und vertreten fühlen. Können Politiker, die nicht selbst zu den Abgehängten gehören, diese Gruppe glaubwürdig ansprechen und mobilisieren?

Darauf habe ich zwei Antworten: Erstens, wir haben viel zu viele Berufspolitiker, die tatsächlich nicht nah am Menschen denken. Das trifft aber nicht auf alle zu. Zweitens, man muss nicht zwingend Teil der Gruppe sein, die man politisch vertreten will, denn man vertritt eben nicht einzelne Interessen, sondern größere ideologisch-moralische Weltanschauungen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings ein hohes Maß an persönlicher Glaubwürdigkeit. Grundlegende Weltanschauungen von richtig und falsch gehen über alle sozialen und finanziellen Unterschiede der Menschen hinweg und vereinen sie.

Das widerspricht zwar dem gerade sehr beliebten Verständnis einer Kluft zwischen einer sogenannten "Elite" und den "Abgehängten", aber es werden auch wieder andere Trends kommen. Wer mobilisieren will, muss authentisch Werte ansprechen; wer das schafft, für den erübrigt sich zunehmend das vermeintliche Problem einer unüberwindbaren Spaltung zwischen "oben" und "unten".

Elisabeth Wehling, geboren 1981 in Hamburg, ist Kognitionswissenschaftlerin an der
University of California in Berkeley und Expertin auf dem Gebiet der
kognitiven Verhaltensforschung. Im Herbst 2016 sagte sie als eine von
wenigen den Wahlsieg von Donald Trump vorher.