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Viele Flüchtlinge haben das Potenzial, gesuchte Fachkräfte zu werden

Von Martina Madner

Politik

Rund 3500 Arbeitssuchende besuchten Österreichs erste Jobmesse für Flüchtlinge. Ein Jahr später zeigt sich: Die Personalisten waren begeistern, viele Flüchtlinge auch — die Arbeitssuche wäre mit rascherer Förderung aber einfacher.


Wien. Bereits eine Stunde vor dem Beginn der Chancen:Reich, Österreichs erster Berufsmesse für geflüchtete Menschen, hatten sich am 29. Juni 2016 rund 300 Wartende vor der Halle E und den Hofstallungen im Museumsquartier geduldig in eine zunehmend länger werdende Schlange eingereiht. Und es wurden laufend mehr, die Sonne sorgte schon morgens für sommerliche Hitze.

Auch der heute 35-jährige Hasan Al Kassier aus dem Irak reihte sich in die Wartenden ein. Er kam mit seinem "Buddy" Franz Steiner, den er über die Flüchtlingshilfe Schwechat kennengelernt hatte. Die beiden nutzten die Zeit zum Plaudern, bis sich die Pforten der Messe um 9.30 Uhr öffneten.

Hürden, die Flüchtlinge am Arbeiten hindern

Al Kassier hatte im Irak ein Wirtschafts- und Marketing-Studium absolviert. Franz Steiner hatte "in den Medien von der Messe erfahren". Er unterstützt wie andere Freiwillige in Schwechat Flüchtlinge beim Ankommen in Österreich. "Wir waren vor kurzem bei der ÖH, um zu schauen, wie die Nostrifizierung funktioniert. Dann kommt noch die Wohnungs- und die Arbeitssuche auf uns zu", sagte Steiner. Die beiden lernen zusätzlich zum Intensivkurs auch Deutsch miteinander, "eine wirklich sehr schwierige Sprache", sagte Al Kassier zwar mit Akzent, aber einwandfrei verständlich. Die beiden verband auch eine künstlerische Leidenschaft, sie wirkten beide an den Nestroy-Spielen in Schwechat mit. An Kompetenzen brachte der junge Mann darüber hinaus Arabisch, Russisch und etwas Englisch mit.

Auf der Messe ging es beiden er mal darum, "zu sehen, was es für Arbeit gibt und Kontakte zu knüpfen". Denn arbeiten durfte er damals noch nicht: Nach acht Monaten in Österreich musste Al Kassier damals noch auf den Ausgang des Asylverfahrens warten.

Rund 40 Unternehmen auf Personalsuche

Und endlich öffneten sich die Türen, die ersten 500 von letztendlich 5000 Interessierten, davon 3500 aus der eigentlichen Zielgruppe der Flüchtlinge, strömen zu den Messeständen der 80 Aussteller. Neben Flüchtlings-, Arbeitsmarktberatungs- und Bildungseinrichtungen wie beispielsweise der Diakonie, dem AMS Wien oder Refugees-Work waren auch rund 40 Unternehmen mit dabei: Rund um die Personalisten an den größeren Ständen von Ströck, Spar, Rewe, Siemens, Ikea oder Dussmann, aber auch jenen der kleineren Unternehmen wie Runtastic und den Wiener Vienna-Leading-Hotels wie dem Ritz-Carlton oder dem Vienna Mariott war der Andrang an Interessierte groß.

Die meisten Flüchtlinge hatten ein Mäppchen mit Lebensläufen mit dabei, um bei den Personalisten der Unternehmen gleich einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, da auf der Messe nur kurze Gespräche möglich waren. Die wiederum wollten sich Mitarbeiter-Potenzial fürs eigene Unternehmen sichern. Ein Jahr danach zeigt sich, dass zwar nach wie vor viele nach dem passenden Job oder Bewerber suchen, aber die erste Chancen:Reich durchaus Unternehmen und Flüchtlinge matchen konnte.

Erfolgreiche Personalsuchegroßer Konzerne

Zum Beispiel Eva Planötscher-Stroh, Personalleiterin des 1600 Mitarbeiter großen und in Wien und Umgebung tätigen Bäckereiunternehmens Ströck. Sie erklärte auf der Messe beinahe am laufenden Band ständig neuen Flüchtlingen - in diesem Moment waren es gerade sechs junge Männer auf einmal: "Wir suchen Servicepersonal für unsere Cafés. Es gibt zwei Schichten, eine bis Mittag, eine ab Mittag, 40 Stunden Vollzeit, verteilt auf sieben Tage die Woche, auch am Wochenende." Ein junger Mann drückte ihr seinen Lebenslauf in die Hand, bedankte sich höflich für die Information und ging zu den Lebensmitteleinzelhändlern.

Sind Qualifizierte dabei? "Bei uns im Service ist es nicht so tragisch, wenn man keine Ausbildung hat. Uns geht es darum, was die Leute können, und nicht um den formalen Abschluss", sagte Planötscher-Stroh und hatte wieder zu tun. Sie wollte die nächsten Bewerber nicht warten lassen.

Insgesamt wurden es schließlich 101 Lebensläufe, die die Personalleiterin für Ströck von der Messe mitnehmen konnte, resümiert sie gut ein Jahr später. "Die Leute auf der Messe haben einen sehr, sehr guten Eindruck gemacht. Ich war sehr überrascht, dass die Deutschkenntnisse der meisten wesentlich besser waren als anfänglich befürchtet", erzählt Planötscher-Stroh heute.

Neben Servicepersonal suchte das Unternehmen Mitarbeiter für den Verkauf und die Bäckerei, darüber hinaus Lehrlinge. 58 Bewerbungsgespräche führten Planötscher-Stroh und ihre Human Resources-Kollegen im Anschluss: "28 erhielten eine Jobzusage, 21 haben tatsächlich auch begonnen." Darunter auch die beiden 21-jährigen Flüchtlinge aus Afghanistan, Razeq und Ali, sowie der 18-jährige Ocelan aus Syrien. Sie werden bei Ströck nun von Meister Rudolf Brauchard zu Bäckern ausgebildet und "machen sich gut", sagt die Personalistin.

Ein Recruting-Erfolg sei die Messe "allemal gewesen", auch weil sich die Flüchtlinge beim Anmelden mit Messe und Ausstellern beschäftigt hatten und damit "anders als bei anderen Jobmessen manchmal üblich nicht das Einsammeln von Werbegeschenken, sondern tatsächlich die Jobs im Fokus standen."

Vielfältige und hochqualifizierte Bewerber

Cornelius Vleugel, aktuell in Bildungskarenz, der damals für Ikea vor einem Jahr auf der Messe Ansprechpartner war, soll seiner Kollegin, Pressesprecherin Barbara Riedl, ganz begeistert erzählt haben: "Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für tolle Leute da waren." Mehr als 20 davon gehören heute zum österreichweit 2650 Mitarbeiter großen Team, rund 1100 davon in Wien.

Das passe zur Unternehmenskultur, man habe sich schon davor mit Sach- und Geldspenden im Wert von 500.000 Euro in der Flüchtlingshilfe engagiert. Das komme im Unternehmen an, die neuen wurden auch nicht als Konkurrenz gesehen: "Wir sind bunt und vielfältig, haben wie alle Handelsunternehmen eine relativ hohe Fluktuation, deshalb laufend neue Jobs zu besetzen", sagt Riedl. Und: "Die Flüchtlinge bringen Fähigkeiten mit, die wir zu schätzen wissen. Sie können sich mit Arbeit einfacher integrieren und wir haben gute neue Leute."

47 Prozent der Flüchtlinge auf der Messe hatten einen Studienabschluss, weitere 31 Prozent Matura, hat Chancen:Reich-Organisatorin Stephanie Cox bei der Messe in einer Befragung erhoben. Die Unterstützenden Organisationen - die Wiener Wirtschaftskammer, das AMS Wien und Wirtschaftsagentur Wien - zeigten sich zufrieden. Von den Unternehmen hätten 67 Prozent potenzielle Mitarbeiter auf der Messe kennengelernt: "Viele von den Personalisten haben sehr emotional reagiert, haben gesagt: Wow, ich hätte diese Menschen total unterschätzt", sagt Cox heute.

Die Messe fand Tiroler Nachahmer

Eine weitere Messe in Wien sei heuer zwar nicht geplant, heißt es von Seiten des AMS Wien. Man wolle sich heuer unter anderem speziell um die Anerkennung der Abschlüsse im Gesundheitswesen und die Integration der Friseure unter den Flüchtlingen bemühen. Das Echo der Chancen:Reich ging aber über die Stadtgrenzen hinaus und führte zu einer kleineren Messe in Innsbruck: Im Mai trafen sich ein Dutzend Tiroler Unternehmen und rund 150 eingeladene, in Tirol wohnhafte Flüchtlinge zu Face-to-Face-Gesprächen. "Es wurde bewusst ein anderes Design gewählt, um sich besser kennenzulernen. Wir passen das an die jeweiligen Bedürfnisse an, das hat gut funktioniert", sagt Cox. Aber auch von den Flüchtlingen, die auf der Chancen:Reich waren - ein sehr großer Teil aus Syrien, viele auch aus dem Irak und deutlich weniger aus Afghanistan, acht von zehn Männer, die meisten noch keine 35 Jahre alt - war ein Großteil zufrieden: 64 Prozent berichteten mögliche Arbeitgeber getroffen zu haben und 90 Prozent wollten die Messe weiter empfehlen.

Manche fanden Arbeitauf Umwegen

Einer davon ist der heute 20-jährige Syrier Louai Abdul Fattah, der noch immer in höchsten Tönen von der Chancen:Reich spricht, obwohl sie ihm auf direktem Weg keine passende Arbeit brachte: "Das war eine tolle Sache, um österreichische Unternehmen kennenzulernen. So viele auf einem Platz, man hatte viele Chancen auf Bewerbungsgespräche."

Einige seiner Freunde hätten nach der Chancen:Reich bei Lebensmitteleinzelhändlern zu arbeiten begonnen. Er selbst habe sich vor allem bei den Medien vor Ort umgesehen: "In meiner Familie gibt es seit 40 Jahren Fotografen, auch mein Vater war Fotograf. Da habe ich auch immer wieder mitgearbeitet, also habe ich auf der Messe beim ORF und Biber meinen Lebenslauf abgegeben." Bei Wiener Stadtmagazin "Biber" konnte er schließlich ein Foto-Praktikum machen. "Das hat mir geholfen, um Fotos für das ,Vormagazin‘ machen zu können."

Und mit der nun gewachsenen Mappe konnte er die Fotografen der Wiener Anzenberger Masterclass von sich überzeugen: "Die waren begeistert von mir." Er habe neben dem Jugendcolleg für junge Flüchtlinge eine einjährige Ausbildung, die sich normalerweise mit mehreren tausend Euro zu Buche schlägt, kostenlos absolvieren und im Juni erfolgreich abschließen können.

Trotzdem schätzt er seine Chancen in seinem Traumberuf nach wie vor nicht gut ein: "Als Fotograf ist es extrem schwierig, in Wien Arbeit zu finden." Deshalb habe er sich für eine Lehrstelle als Architekturzeichner beworben. Anfang August gibt es die Probewoche, läuft die gut, könnte es im September losgehen. Dass das wieder etwas Neues ist, stört Fattah nicht: "Ich lerne gerne und mag es immer wieder neue Sachen auszuprobieren."

Neu orientieren mussten sich aber auch manche Unternehmensaussteller - und nach anderen Mitarbeitern suchen. Talent-Scout Monika Dauterive des Lauf-App-Entwicklers Runtastic hatte auf der Messe zwar bei 170 Mitarbeitern noch weitere 40 bis 50 Positionen zu besetzen. Zwar erhielt sie nach der Messe rund zehn Bewerbungen, Stellen besetzen konnte sich aber nicht: "Was zum Teil auch daran lag, dass viele nicht nach Linz übersiedeln wollten, wo wir aber die meisten Stellen zu besetzen haben."

Noch fehlende Kompetenzen ausgleichen

Mit zwei konkreten Personen für Data Science und für Mobile Computing habe Dauterive zwar Gespräche geführt, aber: "Es scheiterte an den zu langen Berufsunterbrechungen. Vermutlich wegen der Fluchtgeschichte. Das ist in unserer Branche so, wenn du zwei bis drei Jahre weg bist, ist das Wissen veraltet." Auch Englisch als Firmensprache sei für viele Flüchtlinge ein Problem gewesen: "Viele konnten Deutsch besser als Englisch."

Claudia Melnitzky, Personalleiterin des Wiener Ritz-Carlton, wiederum hat mit den Bewerbern für das Hotel auf der Messe die umgekehrte Erfahrung gemacht. "Die Mehrsprachigkeit wäre für uns zwar sehr interessant. Manche konnten aber zu wenig Deutsch, um bei uns im Service tätig zu sein. Im Roomkeeping bräuchte man nur Englischkenntnisse." Zwar habe sie im Anschluss an die Messe sechs Gespräche geführt, letztendlich kam es aber zu keiner Einstellung: "Da waren aber auch Ingenieure und Studienabsolventen darunter, die haben natürlich auch nicht den Wunsch, eine Hilfskräfteposition anzunehmen."

Auch dem Vienna Marriot Hotel brachte die Messe kein neues Personal: "Für uns haben sich zwar sehr, sehr viele interessiert, aber viele hatten noch die notwendigen Unterlagen noch nicht oder mussten noch auf den positiven Asylbescheid warten", erzählt Personalleiterin Gabriele Hasenauer. Flüchtlinge bleiben aber für beide Hotels zusätzliches Arbeitskräftepotenzial: Das Ritz-Carlton rekrutierte unabhängig von der Messe einige und auch Hasenauer sagt: "Wir sind sehr offen für Flüchtlinge, haben auch Lehrlinge, das funktioniert schon und ist für beide Seiten eine Chance."

Vielleicht hört eine der beiden bald von Hasan Al Kassier, dem 35-jährigen aus dem Irak. Er hat sich damals auch bei Hotels Visitkärtchen geholt, schließlich hofft er nach wie vor, seinen Abschluss auch in Österreich beruflich einsetzen zu können. "Und bei den Hotels gab es Leute, die gesagt haben, dass sehr viele Touristen in Wien Arabisch sprechen, das ist ja meine Muttersprache, das wäre schon sehr interessant für mich." Auch in einem Unternehmen, das am arabischen Markt tätig ist, sei für ihn vorstellbar.

Den subsidiären Schutz hat er jedenfalls "als Geschenk zu Silvester erhalten". Auch der Umzug nach Wien ist geschafft. Sein Deutsch wird nach dem Sommerkurs B2-Level haben, und bis dahin sollte auch das letzte Zeugnis für die erfolgreiche Anerkennung seines Studiums da sein. Und dann geht es los mit Bewerbungen, sagt Al Kassier: "Mein Ziel ist es, einen fixen Job zu erhalten. Es ist wichtig, Arbeit zu haben. Nicht nur weil es ohne Arbeit langweilig ist, auch für die Integration. Ich werde mich aber auch für ein Praktikum bewerben, damit ich zeigen kann, was ich kann."

Sein Können stellt er übrigens auch heute Abend unter Beweis: Hasan Al Kassier gibt den "Botschafter von Irgendwo" im Stück "Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab" der 45. Schwechater Nestroyspiele — und steht gemeinsam mit seinem Buddy Franz Steiner in der Rolle des Weltenbummlers Überall auf der Bühne.