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Im Einsatz, wenn es kracht

Von Bettina Figl

Politik

Für Österreichs Polizei war der G20-Protest in Hamburg ein Belastungstest. Obwohl Ausschreitungen wie diese in Wien | unbekannt sind, werden sie womöglich zum Anlass genommen, um das Versammlungsrecht nochmals nachzuschärfen.


Wien/Hamburg. Flaschen, Steine, Molotowcocktails: Autonome haben sich auf den Dächern verschanzt. Sie beschießen Wega-Beamte, die mit Wasserwerfern durch die Straßen Hamburgs ziehen. Es seien "bürgerkriegsähnliche Szenarien" gewesen, berichtet Ernst Albrecht, Chef der Wiener Sondereinheit Wega.

Etwas mehr als ein Prozent der 20.000 Polizisten, die bei den G20-Protesten in Hamburg im Einsatz waren, kam aus Österreich. Fast die Hälfte der 215 Beamten gehören Spezialeinheiten an: 20 dem Einsatzkommando Cobra und 74 Polizisten der Wiener Sondereinheit Wega. Sie wollte Hamburgs Polizeidirektor und Einsatzleiter Hartmut Dudde "dann einsetzen, wenn es kracht", sagt Albrecht im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Gekracht hat es sehr bald, und sehr heftig - aber von Anfang an: Im April 2017 suchte die deutsche Polizei um österreichische Unterstützung beim G20-Gipfel an. 74 Wega-Beamte meldeten sich freiwillig. Was hat die junge Truppe - viele von ihnen um die 30 Jahre, 20 haben die Wega-Basisausbildung gerade erst abgeschlossen - motiviert, mitzufahren? War es der Nervenkitzel, der Adrenalin-Kick? "Jeder, der sich Action wünscht, wünscht sie sich einmal und nie wieder, nachdem er Kontrollverlust, Ohnmacht und verletzte Kollegen erlebt hat", sagt Wega-Oberst Albrecht.

Ursprünglich begann alles friedlich, unter anderem mit der "Lieber tanz ich als G20"-Tanzdemo. Doch dann kippt die Stimmung. Am siebten Tag der G20-Proteste erreicht die Eskalation schließlich ihren Höhepunkt: Autonome zünden Autos an, plündern Geschäfte, liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei.

Die Wega dringt über das Schulterblatt, das Herz des linken Schanzenviertels, mit Wasserwerfern vor, während das deutsche Spezialeinsatzkommando (SEK) die Dächer der Eckhäuser stürmt, auf denen Autonome Betonplatten vorbereiten und mit Steinschleudern Eisen- und Stahlkugeln in Richtung Polizei abfeuern.

"Es ist erschreckend und faszinierend, wie schnell man sich an solche Szenarien anpasst - die ersten beiden Flaschen irritieren noch, die dritte nimmt man relativ gelassen hin", sagt Albrecht. Fünf seiner Männer wurden leicht verletzt, von Schädelprellung über Bluterguss bis hin zur leichten Gehirnerschütterung. Das ist die eine Seite.

Rechtsanwalt Peter Stolle, der als Mitglied des anwaltlichen Notdienstes die G20-Proteste begleitet hat, berichtet der "Wiener Zeitung" von der anderen Seite: "Die Wega hat einen friedlichen Demo-Zug ohne Vorankündigung gewaltsam gestoppt, auf die erste Reihe der Demonstranten im Kopf- und Bauchbereich eingeschlagen und Pfefferspray eingesetzt. Drei Menschen wurden mit dem Krankenwagen abgeholt." Die Wiener Wega sei "schon sehr robust" vorgegangen, so der Jurist, "aber es war nicht eine vollkommen andere Qualität und nichts, wo man sagen könnte, das gebe es bei der deutschen Polizei nicht". Die Demonstranten hätten ihm berichtet, dass der Pfefferspray der Wega schärfer war - "aber das ist eine subjektive Einschätzung, die ich nicht verifizieren kann".

Die deutsche Polizei betreibt derzeit Aufarbeitungsarbeit: Das Dezernat Interne Ermittlungen der Polizei prüft 49 Fälle wegen Polizeigewalt - angesichts der vielen Bilder, die im Internet zu sehen waren, erscheint die Zahl gering. Es komme fast nie vor, dass sich die Opfer von Polizeigewalt an die Behörde wenden, heißt es aus der Innenbehörde.

"Manchmal frage ich mich schon, was man sich erwartet, wenn man Polizeisperren durchbrechen will: Eine Polizeisperre ist keine Empfehlung", sagt Albrecht. Die österreichische Polizei hatte bei dem Einsatz dieselben Rechte und Pflichten wie ihre deutschen Kollegen; die Beamten schrieben Anzeigen, führten Verhaftungen durch - und führten Gespräche. Immer wieder hätten Demonstranten versucht, eine ideologische Diskussion zu starten, sagt Albrecht: "Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen das Gespräch suchen und mit uns diskutieren wollen. Die klischeehafte Antipathie gegenüber der Polizei habe ich in Hamburg weniger erlebt als bei Demos in Österreich."

Die Demonstranten wollten also mit der Wega darüber sprechen, dass sie das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen, oder dass Steineschmeißen in ihren Augen weniger Gewalt darstellt als die Beschlüsse, die am G20-Gipfel getroffen werden? Ja, berichtet der Wega-Oberst, und sagt: "Damit können wir uns wirklich nicht auseinandersetzen." Allgemein sei die Hamburger Bevölkerung, vor allem zu Beginn der Proteste, der Polizei gegenüber reserviert gewesen: "Die Lokalbesitzer auf der Reeperbahn waren nicht unbedingt polizeifreundlich - dort auf’s WC zu gehen war nicht drin."

Was hat die Wega in Hamburg gelernt? "Es war unser bisher längster Einsatz und hat uns gezeigt, dass wir Einsätze mit hoher körperlicher und mentaler Belastung ohne Fehler durchhalten", sagt Albrecht. Während des rund einwöchigen Einsatzes hätten seine Beamten kaum geschlafen.

"Wir sind viel zu Fuß gelaufen, was in einer 15 Kilo schweren Schutzausrüstung eine Belastungsprobe ist. Der Einsatz ging in die Knochen. Nachdem der Funk ausgefallen war, mussten wir mit Armzeichen kommunizieren, fast wie im napoleonischen Krieg", sagt Albrecht. "Wir haben mit Codes kommuniziert, wir lernten, mit wenig Infos auszukommen."

Sollte man Veranstaltungen wie den G20-Gipfel lieber nicht in Großstädten mit einer großen linken Szene, wie sie Hamburg hat, veranstalten? Sollte man den Austragungsort wohin verlegen, wo mit massiven Protesten zu rechnen ist? "Man kann sich nicht erpressen lassen", sagt Albrecht. "Die Gewalt im Schanzenviertel hat uns überrascht - es ist das eigene Wohnzimmer, das zerstört wurde." Er glaubt auch, dass die Randale nicht von Hamburgern ausgingen - "doch das ist nur eine subjektive Einschätzung". Auch Reinhard Kreissl, Chef des Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung, ist dagegen, politische Gipfeltreffen fernab urbaner Zentren zu veranstalten (siehe Interview unten).

Die internationale Zusammenarbeit der Polizei ist nichts Neues. Bei Fußballmatches, im Grenzbereich und kriminellen Ermittlungen ist sie seit Jahren üblich, szenekundige Polizisten heften sich quasi an die Fersen der Hooligans. "Wir haben bei der Fußball-EM 2008 zum ersten Mal mit den Deutschen zusammengearbeitet. Die Spotter (ein Polizist, der Kenner der Szene ist, Anm.) wissen genau, wer Stadionverbot hat", erklärt Albrecht. Rechtlich basiert die Zusammenarbeit auf dem 2003 abgeschlossenen "Deutsch-Österreichischen-Polizei- und Justizvertrag" sowie dem "Prümer Vertrag" aus dem Jahr 2005.

Bei Demonstrationen ist die deutsch-österreichische Zusammenarbeit eher neu, so hoch im Norden wie beim G20-Gipfel waren die österreichischen Beamten noch nie im Einsatz. Die internationale Zusammenarbeit ist nicht zwischen allen Ländern so einfach möglich. Philosophie und Vorgehensweise der deutschen und österreichischen Polizei seien einander sehr ähnlich, sagt Albrecht: "In der Schweiz oder Frankreich kommen Gummiknüppel und Tränengas zum Einsatz, dafür war bei uns noch kein Bedarf. In Italien, Portugal, Spanien und Frankreich schießt die Polizei fast standardisiert mit Tränengas."

Das habe auch historische Gründe: Seit Spaniens Diktator Franco Demonstranten mit Wasserwerfern weggespritzt hat, gilt dieses Mittel in Spanien als faschistisch und ist für die Polizei ein No-Go.

Ähnliches gelte in Österreich für die berittene Polizei: Beim Justizpalastbrand 1927, bei dem es 84 Todesopfer aufseiten der Demonstranten gab, galten die berittenen Polizeibeamten als "die Bösesten von allen", sagt Albrecht, weshalb die österreichische Polizei - anders als etwa die englische oder US-amerikanische - nicht mehr aufsattelt.

Unmittelbar nach den G20-Protesten nutze Innenminister Wolfgang Sobotka die Gunst der Stunde und forderte "Anpassungen" beim Versammlungsgesetz.

Bei Juristen sorgt dies für Kopfschütteln. "Wenn man jetzt nach Gesetzesverschärfungen ruft, ist das populistisch, und hat mit den Problemen und deren Lösung nichts zu tun", sagt der deutsche Jurist Stolle. Der Gedanke, dass man einer Situation wie jener im Schanzenviertel durch Veränderung des Demonstrationsrechts Herr werden könnte, erschließt sich ihm nicht: "Was hilft es, ob eine Versammlung angemeldet werden muss, oder was man mitnehmen darf? Da besteht überhaupt kein Zusammenhang."

Die deutsche Praxis auf Demos "sei ganz anders als die österreichische, viel widerstandsfreudiger. Große Proteste gibt es in Österreich kaum", sagt Philipp Hense-Lintschnig, der deshalb ebenfalls nicht nachvollziehen kann, warum sich die Ausschreitungen in Hamburg auf österreichisches Recht niederschlagen sollte. Der auf Polizei und Versammlungsrecht spezialisierte Jurist sagt: "In anderen Ländern gibt es eine Normalität der Gewalt, die es in Österreich nicht gibt. Hierzulande rufen eingeschlagene Fensterscheiben viel mehr Empörung hervor als anderswo." In dieselbe Kerbe schlägt der Kriminologe Kreissl (siehe Interview).

Erst Ende April dieses Jahres hat der Nationalrat Neuerungen im Versammlungsrecht beschlossen (siehe Infobox). Einer der umstrittensten Punkte ist der Mindestabstand zwischen rivalisierenden Kundgebungen. "Die Gesetzesnovelle im Versammlungsrecht ermöglicht uns mehr. Bisher hat sich die Polizei schwer getan, Versammlungen zu verbieten", zieht Wega-Chef Albrecht diesbezüglich erste Bilanz - wobei er auch die Kritiker versteht: "Was hat es für einen Sinn, wenn man auf der Jubiläumswarte gegen den WKR-Ball protestiert?" Es macht auch für den Wega-Chef "keinen Sinn, wenn die Gegendemo ganz woanders stattfindet als die Demo", aber zwei aufeinandertreffende, rivalisierende Demonstranten seinen nun einmal "ein polizeilicher Albtraum".

Das Gesetz gibt nicht vor, nach welchen Kriterien im Falle zweier rivalisierender Kundgebungen die eine Demo zugelassen und die andere untersagt wird. Erste Beispiele aus der Praxis zeigen, dass die Behörde die Versammlung, die zuerst angemeldet wurde, schützt. So geschah es beim "Burschen-Bummel", der allwöchentlich vor der Hauptuni in Wien stattfindet, bei dem die Gegendemo ebenso verboten wurde wie eine Gegendemo bei einem Identitären-Aufmarsch in Graz. "Seit Jahrzehnten beobachten wir, dass sich die Befugnisse der Polizei ausweiten. Dabei gibt es (allgemein, nicht nur auf Demos) viel mehr Straftaten aus der rechten Szene", sagt Hense-Lintschnig. Eine dieser Ausweitungen war das Vermummungsverbot, das in Österreich seit 2002 existiert.

"Bei der ‚Welcome To Hell‘-Demo hat man gesehen, dass es sinnvoller wäre, wenn die Polizei nicht per Gesetz dazu angehalten ist, gegen das Vermummungsverbot vorzugehen, sondern die Vermummung als Ordnungswidrigkeit ausgelegt wird. Dann könnte nach Ermessen der Polizei eingeschritten werden. Das eröffnet mehr Spielraum, einen friedlichen Verlauf zu garantieren oder deeskalierend zu wirken", sagt Stolle. Einige deutsche Bundesländer haben das Vermummungsverbot bereits gelockert, andere sind, wie Niedersachsen, auf dem Weg dorthin.

In Österreich wird es so bald keine Lockerungen im Versammlungsgesetz geben. Zwar ist Sobotka mit seinen Vorschlägen zur Verschärfung des Versammlungsrechts bei der SPÖ abgeblitzt - doch die FPÖ zeigt sich gesprächsbereit und pocht auf Verschärfung. Auch in diesem Bereich werden wohl die Weichen bei den Nationalratswahlen im Herbst gestellt.

Das neue Versammlungsrecht:

Seit der Gesetzesnovelle im April 2017 müssen Demonstrationen zwei Tage im Vorfeld angemeldet werden (bisher waren es 24 Stunden). Zudem wurde die Teilnahme ausländischer Politiker erschwert, und - für viele die umstrittenste Neuerung - zwischen rivalisierenden Kundgebungenmuss ein Mindestabstand eingehalten werden, den die Polizei definiert.

Geplante weitere Neuerungen:

Innenminister Sobotka nahm die Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg im Juli zum Anlass und forderte Verschärfungen im Versammlungsrecht. Ihm fehlt eine "Legaldefinition des Versammlungsbegriffes", um Rechtssicherheit in der Abgrenzung etwa zum Veranstaltungsrecht zu schaffen. Die Versammlungsanzeige soll demnach auch Informationen zum Thema, der Wegstrecke, Beginn und Dauer der Demonstration beinhalten. Die neue Fassung soll zudem Untersagungs- und Auflösungsgründe vereinheitlichen. Spontanversammlungen werden weiterhin möglich sein, betont das Innenministerium. Darüber hinaus wird verlangt, dass der Leiter der Versammlung für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zuständig ist. Der Demo-Leiter soll ein "klarer Ansprechpartner" für die Behörden sein und bei "vorwerfbarem Fehlverhalten" rechtliche Verantwortung übernehmen.

Absage des Koalitionspartners:

Die SPÖ hat den ÖVP-Vorschlag abgelehnt. Kanzleramtsminister Thomas Drozda sagte, er sehe beim Versammlungsrecht keinen Veränderungsbedarf über das hinaus, "was wir aus guten Gründen beschlossen haben", und verweist damit auf die im April beschlossenen Neuerungen.

ZUM VERSAMMLUNGSRECHT