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Zwei Abschiebungen abgewendet

Von Eva Zelechowski

Politik
Erschöpft, aber erleichtert: Die 33-jährige Armenierin und ihre zwei Kinder vor dem Abschiebezentrum in Simmering, wo sie nach einer Nacht freigelassen wurden.
© Wiener Zeitung / Eva Zelechowski

Nach sechs Jahren im Mühlviertel sollte eine junge Armenierin mit ihren zwei Kindern abgeschoben werden.


Wien. Eine Beamtin sperrte die Tür von außen auf und betrat das Zimmer: "Sie sind entlassen." Es war Dienstagvormittag. Welche Uhrzeit genau, wusste die 33-jährige Narine B. nicht, denn bei der Ankunft im Familienanhaltezentrum in Simmering am Montagabend wurde ihr das Handy abgenommen.

Am Tag zuvor standen Polizeibeamte vor ihrer Tür im Caritas Flüchtlingsheim in Walding, Oberösterreich, wo sie sechs Jahre lang mit ihrem Mann Tigran und den beiden Kindern lebte. Die Polizisten sollten die junge Mutter und ihre zwei Kinder in ein Abschiebelager nach Wien bringen.

Ein Blick zurück:

Vor sechs Jahren ließ die Familie ihre Heimat in Jerewan, Armenien, hinter sich. Was sei der Grund gewesen? "Weil Krieg ist!", ruft der siebenjährige Maksim. Wir sitzen im Hof vor dem Anhaltezentrum, um uns herum spielen ein halbes Dutzend Kinder Fußball. Die junge Mutter lächelt und streicht dem Bub zärtlich über den Kopf. "Nein, in Armenien gibt es keinen Krieg. Bei meinem Mann wurde Diabetes diagnostiziert", erklärt sie in fast einwandfreiem Deutsch.

Mit den Jahren habe sich sein Zustand verschlechtert, die medizinische Versorgung in der armenischen Hauptstadt reichte nicht aus und der Vater habe zur Flucht nach Österreich gedrängt. Hier werde es ihm und der ganzen Familie besser gehen. Seine junge Frau glaubte ihm. Mit einem Baby im Arm und einer Dreijährigen an der Hand bestiegen sie zuerst ein Flugzeug nach Rumänien, wo die Familie sechs Monate in einem Flüchtlingsheim lebte. "Hier war es schrecklich, meinem Mann ging es immer schlechter", sagt die junge Frau. Sie hätten damals einen Asylantrag gestellt, doch wegen der ärztlichen Versorgung beschlossen sie, es zentraler in Europa zu versuchen.

Jahrelangen Warten zwischen Hoffnung und Ablehnung

Die Familie hatte Schlepper bezahlt, die sie von Rumänien über Ungarn nach Österreich bringen sollten. Stundenlang harrten sie in dem LKW zwischen Eisenstangen und Bauschutt aus, bis die Fahrer vor Traiskirchen hielten.

Da Rumänien sie registriert hatte, lautete die Entscheidung im Flüchtlingslager Traiskirchen sehr bald, die armenische Familie sollte gemäß Dublin III Abkommen nach Rumänien zurückgeschickt werden. Dazu kam es nicht. Der Familienvater bekäme hierzulande eine bessere ärztliche Behandlung. Das sahen offenbar auch die Behörden so. Nach einem halben Jahr in Traiskirchen kam die Familie ins oberösterreichische Walding.

Es folgten Jahre, in denen Asylanträge und die damit verbundene Hoffnung mit Negativbescheiden und der dadurch drohenden Deportation zum depressiven Alltag wurden. Hinzu kamen die Krankheit des Vaters und die zermürbende Beschäftigungslosigkeit. Narine arbeitete ehrenamtlich im Altersheim von Walding, um nicht komplett im Nichtstun zu verfallen.

Schockierende Nachricht: Diagnose Krebs

Im März diesen Jahres ein weiterer Schock: Tigran hat Krebs. Nach der Diagnose ging es schnell, der Krebs hatte sich bereits durch den gesamten Körper gefressen. Anfang Juni kam es zum ersten Abschiebeversuch. Zu dem Zeitpunkt befand er sich jedoch im Krankenhaus. Die Abschiebung wurde ausgesetzt. Drei Wochen später verstarb der zweifache Vater und wurde in Walding im Beisein seiner Familie und vieler Bekannten aus der Gemeinde begraben.

Fünf Minuten, nachdem ich im Anhaltezentrum ankomme und meinen Besuch anmelde, steht die Familie mit gepackten Koffern und zwei schweren Kinderschulranzen vor der Tür. Die Mutter bekommt weder ein Schreiben noch wird ihr der Grund ihrer Entlassung oder ihre weiteren Optionen im Gespräch erklärt. Hier in Simmering bei der Autobahn sind sie wieder auf sich selbst gestellt.

In Österreich bekommen nur wenige Armenier Asyl zugesprochen. Die Anerkennungsquote liegt etwa bei 3,7 Prozent. Zwischen Jänner und Juli 2017 wurden von 163 Asyläntragen lediglich sechs positiv entschieden, abgelehnt wurden 129, vier erhielten subsidiären Schutz und 25 einen humanitären Aufenthaltstitel. Die Familie B. darf hoffen, bald unter ihnen zu sein.

Narine wirkt wie ein Geist: "Ich kann es noch nicht glauben"

Die zwei Kinder sind sieben und neun Jahre alt und haben bereits zwei Mal einen Abschiebeversuch durchlebt und ihm getrotzt. In ihren Augen stecken Neugier und Lebensfreude, sie sind zappelig und löchern einen mit frechen Fragen. Auf Manes Brille ist die Marke "Police" eingraviert. Auf die Frage, ob sie auch mal Polizistin werden möchte, schüttelt sie vehement den Kopf und wirbelt dabei die langen Haare herum. "Nein! Sie will Ärztin werden!", ruft Maksim fast empört.

Die Mutter wirkt müde. Zu müde, um die gute Nachricht, dass sie in Österreich bleiben darf, mit Freude anzunehmen. Ob sie ein bisschen erleichtert sei? "Ich kann es noch nicht annehmen. Vielleicht ist es der Schock, in den letzten sechs Monaten ist so viel passiert. Ich kann es noch nicht glauben, dass wir jetzt nachhause dürfen." Sie sieht ihren Kindern beim Herumtollen zwischen den schweren Rollkoffern vor dem Zaun des Anhaltezentrums zu und schließt die Augen.

Wahrscheinlich reicht Schlaf nicht aus, um das Erlebte zu verarbeiten. Wie geht es jetzt weiter? Als Witwe fehlt ihr die seelische Unterstützung eines Partners und die warme Umarmung eines vertrauten Menschen, dass alles gut wird.

Im Gegensatz dazu wirken die Kinder aufgedreht. Es scheint, als würde es ihnen das viele Reden und Hüpfen den Verlust des Vaters einfacher machen. "Papa ist nicht tot", ruft die Kleine, als Narine vom Tod ihres Mannes erzählt. "Er schläft nur!"