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Der Stein der Pflege-Weisen

Von Martina Madner

Politik
Pflegekräfte brauchen mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit: die Pflege ihrer Klienten.
© fotolia

"Buurtzorg" sorgte für Reformen der Altenpflege in Holland. In Österreich muss man dafür noch Hürden überspringen.


Wien. Ein wahrlich "rasantes" Wachstum sagte eine vor kurzem veröffentlichte Wifo-Studie den Pflegekosten Österreichs voraus. Aber selbst die nüchternen Zahlen, die die beiden Wirtschaftsforscher Ulrike Famira-Mühlberger und Matthias Firgo darin präsentieren, könnten politisch Verantwortliche erblassen lassen. Heißt es da doch: "Die öffentlichen Gesamtkosten für Pflege- und Betreuungsdienste werden österreichweit bis zum Jahr 2050 um 360 Prozent steigen." Statt knapp zwei Milliarden Euro werden Länder und Gemeinden 2050 rund neun Milliarden Euro ausgeben müssen. Und das Bundespflegegeld dürfte von derzeit 2,5 auf 4,2 Milliarden Euro ansteigen.

"Schuld" sind die Babyboomer, die ab 2030 Pflege brauchen werden. Das bedeutet anstelle der heute rund 450.000 Pflegegeldbezieher gibt es 2050 schon 750.000. Dafür braucht es 102.000 Pflegekräften, heute sind es rund 62.000.

Pflege ist Wahlkampfthema

Die Langzeitpflege und deren Finanzierung wird also nicht nur wegen der bis zu 200 Millionen Euro teuren Abschaffung des Pflegeregresses auch lange nach den Wahlen Thema bleiben.

Sie ist bereits Wahlkampfthema. "Pflege braucht Zeit und keine Stechuhr", sagt Erich Fenninger, Vorstandsvorsitzender des Arbeitgeberverbands Sozialwirtschaft Österreich und Chef der Volkshilfe. "Mehr bezahlte Zeit für die Einschulung, für die Dokumentation und Planung, mehr Gesprächszeit für die Klientinnen und Klienten", konkretisiert Willibald Steinkellner, Vorsitzender des Fachbereichs Gesundheit bei der Gewerkschaft vida. 200 Millionen mehr pro Jahr für die Langzeitpflege wären dafür notwendig - viel Geld also, das Arbeitgeber und Arbeitnehmer von einer künftigen Regierung fordern.

Aber wollen die Parteien das auch bereitstellen? Sebastian Kurz plant für die ÖVP in seinen zehn Punkten für das Gesundheits- und Pflegesystem Bürokratieeinsparungen zur Finanzierung der Pflege. FPÖ-Pflege- und Behindertensprecher Norbert Hofer spricht von "einer durchdachten Reform im Pflegebereich, die auch die Ausbildung von Pflegepersonal und die Finanzierung mit einschließt und sicherstellt." Bundeskanzler Christian Kern verspricht im vor der Wahl überarbeiteten Plan A für die SPÖ 50 Prozent der privaten Kosten übernehmen zu wollen. Dazu eine Milliarde Euro zur Verbesserung der Pflegeberufe und 500 Millionen Euro mehr Budget durch das Einführen von Erbschaftssteuern.

Losgelöst davon ist im Plan A von einem "Zauberwort, das von den Niederlanden aus weltweit Furore gemacht hat" die Rede: "Buurtzorg." Doch: Was verbirgt sich dahinter eigentlich genau?

Unzufriedener Holländer

Buurtzorg bedeutet im Wortsinn so viel wie Nachbarschaftshilfe. Es ist aber auch der Name des gemeinnützigen Unternehmens von Jos de Blok. Selbst ausgebildeter Pfleger, setzte sich der Niederländer als Führungskraft mehrerer Heimpflegeorganisationen mit Innovation und Qualitätssicherung auseinander. Und ihm wurde klar: Beides war in den bestehenden Organisationen kaum möglich.

Also gründete de Blok 2007 ein eigenes Unternehmen, erst mit einem Team aus vier Pflegekräften. Heute sind es mehr als 10.000, die in 920 unabhängigen Teams mehr als 70.000 pflegebedürftige Menschen versorgen. Das sind rund 20 Prozent all jener, die in den Niederlanden Langzeitpflege brauchen - und Buurtzorg wächst weiter. Warum das?

Das Rezept für den Buurtzorgschen Erfolg ist einfach: Man nehme Teams aus Pflegekräften mit maximal zwölf Personen. Diese sind jeweils für 40 bis 60 Personen verantwortlich. Sie entscheiden selbst, wer welche Arbeit bei wem leistet und welche Unterstützung die Menschen konkret brauchen. Die Pflegekräfte arbeiten nicht mehr in stark ausdifferenzierten Bereichen unter strikten Ziel- und Zeitvorgaben im Minutentakt, sondern ganzheitlich und selbstbestimmt. Sie wechseln sich in der Teamleitung ab, haben wieder den Überblick über den gesamten Alltag der Menschen, die sie pflegen. Und deutlich mehr Entscheidungsfreiheit als in anderen niederländischen - und österreichischen - mobilen Pflegediensten oft üblich. Und sie arbeiten präventiv: Die Pflegekräfte bei Buurtzorg sorgen auch dafür, dass die Pflegebedürftigen sich wieder selbst helfen und der Bedarf an Pflege weniger rasch steigt.

Zufriedenstellende Pflege

Das sorgte für eine hohe Zufriedenheit: Bei den älteren Menschen, die so länger fit zu Hause leben können. Bei den Pflegekräften, die so verantwortungsvoller die Arbeit ausüben konnten, die sie selbst erlernt haben. Zufrieden sind aber auch jene, die die niederländische Langzeitpflege bezahlen, die staatliche Pflegeversicherung und der Staat. Denn Buurtzorg kostet weniger.

Eine Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG stellte 2013 etwa fest, dass die durchschnittlichen Kosten von Buurtzorg pro Pflegebedürftigem und Jahr bei rund 6400 Euro lagen, jene aller Anbieter in den Niederlanden aber bei rund 8000 Euro.

Denn mit dem ganzheitlichen Ansatz anstelle von zerstückelter Arbeit spart Buurtzorg auch Arbeitsstunden: Sie brauchen 108 Stunden für die gleiche Leistung für die andere 168 Stunden aufwenden müssen. In der Studie heißt es: "Damit sind 62 Prozent der häuslichen Pflegeanbieter pro Kunde teurer als Buurtzorg."

Modell für Österreich?

Es gibt ihn nicht oft, aber Buurtzorg scheint ihm schon recht nahe zu kommen: dem Stein der Weisen. Also warum holt man ihn also nicht sofort nach Österreich? Tatsächlich wird Buurtzorg bereits in 20 Ländern nachgeahmt: nicht nur im nahen Schweden, sondern auch in Japan, China und Indien. In weiteren 20 Ländern ist das Modell in Diskussion, "Taiwan ist zum Beispiel interessiert", erzählt Jos de Blok. Eine Anfrage der österreichischen Regierung gab es zwar noch nicht, aber: "Wir kommen näher und näher."

Warum ist man noch nicht angekommen? Ein Grund ist die unterschiedliche Finanzierung der Pflegeleistungen in den Niederlanden und in Österreich. In Österreich wird festgestellt, welche der sieben Pflegestufen notwendig ist, demnach wird das Bundespflegegeld ausbezahlt. Jene, die es beziehen, können selbst entscheiden, wofür es verwendet wird: für Pflege, für Betreuung, aber auch andere Ausgaben. "Das ist ein Anreiz für Familienangehörige, sich in die Pflege einzubringen", meint etwa Walter Marschitz, Sozialwirtschaft Österreich-Geschäftsführer.

Für die Finanzierung professioneller Pflege wie sie Buurtzog bietet, ist das Pflegegeld ein Nachteil: "Denn dort wird der Pflegebedarf zweckgebunden als Sachleistung ausbezahlt", sagt Kai Leichsenring, Wissenschaftler und Executive Director beim European Centre for Social Welfare Policy and Research. "Das niederländische Modell ist integrativer", sagt August Österle, Gesundheitsökonom an der Wirtschaftsuniversität Wien, darüber hinaus. Langzeitpflege, Ärzte und andere Gesundheitsberufe arbeiten auf Augenhöhe miteinander, auch stationäre und mobile Pflege arbeitet Hand in Hand miteinander, über stationäre, mobile Pflege oder Betreuung wird in einem gemeinsamen Assesement entschieden.

Mehr Verantwortung

Um so eigenverantwortlich arbeiten zu können, braucht die einzelne Pflegekraft eine gute, fundierte Ausbildung. Und diese hat sie in den Niederlanden: 70 Prozent haben einen Abschluss mit Diplom, die Hälfte davon außerdem einen Bachelor. Sie sind Generalistinnen, mehrheitlich Frauen, die weitgehend ohne externe Qualitätssicherung auskommen. Jos de Blok sagt sogar: "Qualitätssicherung stört die Pflegerinnen bei ihrer Arbeit. Sie füllt Bücher mit Daten, aber verbessert die alltägliche Praxis nicht."

In Österreich ist das anders: Das konkrete Ausbildungsniveau wird erst mit einer Registrierung der Gesundheits- und Sozialberufe erhoben. Die universitäre Pflegeausbildung ist vergleichsweise neu, dazu wird gerade mit der Pflegefachassistenz ein neuer Beruf eingeführt. Die Planung der Pflegearbeit übernehmen in vielen Organisationen Teamleitungen. Die Pflegekräfte selbst haben dagegen einen zunehmend größeren Aufwand an Dokumentationspflichten zur Qualitätssicherung.

"Bei Buurtzorg fließt das Geld in die Pflege und nicht in die Overhead-Kosten", sagt Jos de Blok. Die Organisation komme mit 50 Leuten im Innendienst, die Budget und Personal verrechnen, aus, dazu gibt es 20 Coaches für die Pflegekräfte. Österreich hat dagegen vergleichsweise große Verwaltungsapparate - nicht nur in den Pflegeorganisationen, sondern auch bei Politik und Behörden, die Aufgaben definieren, verteilen und evaluieren. Das sind dummerweise zugleich auch jene, die sich zum Teil verantwortungsvoll selbst wegreformieren müssten, weil man sie bei Buurtzog nicht in so großer Anzahl braucht.

Trotz alledem gibt es auch in Österreich den Wunsch, solche Hürden zu bewältigen: Da ist Ashoka, eine Organisation, die Social Entrepreneurship fördert und die Idee ihres Fellows Jos de Blok in Österreich bekannt machen möchte. Da sind Arbeiterkammer und Gewerkschaften, denen das selbstbestimmte verantwortungsvolle Arbeiten der Pflegekräfte zusagt. Interesse gibt es auch in Pflegeorganisationen. Aber noch wird überlegt, wie Pilotprojekte aussehen könnten. Und da sind ja auch noch Wahlen, nach denen klarer sein sollte, wie die Pflegefinanzierung künftig aussehen wird.