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"Es gibt keine richtige Entscheidung"

Von Petra Tempfer

Politik
© Fotolia/freshidea

Die Spätabtreibung behinderter Kinder sehen fast alle Parteien kritisch, passiert ist bisher allerdings nichts.


Wien. Glück. Gesundheit. Freiheit. Selbstbestimmung. Das seien wesentliche Werte unserer Gesellschaft, sagt die Sozialanthropologin Aurelia Weikert. Auch werdende Eltern seien mit diesen konfrontiert - ein besonders tiefer Wertekonflikt entstehe, wenn sie die Diagnose erhalten, dass ihr Kind voraussichtlich behindert sein wird. Die Frauen, die abtreiben, werden als egoistisch bezeichnet. Jene, die nicht abtreiben, als unvernünftig. Und die, die gar nicht untersuchen lassen, ob ihr Ungeborenes gesund ist, als Wissensverweigerer. "Es gibt keine richtige Entscheidung", sagt Weikert zur "Wiener Zeitung". Wichtig sei allein, dass jede Entscheidung sanktionslos ist. Und, dass Entscheidungen bereut werden dürfen - auch wenn sie irreversibel sind.

Die Gesetzeslage in Österreich ist derzeit so, dass eine Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate laut Fristenregelung straflos ist. Ergibt jedoch zum Beispiel ein Organscreening, dass "eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt" beziehungsweise nicht lebensfähig sein wird, ist ein Abbruch bis unmittelbar vor der Geburt straflos. So steht es in Paragraf 97 im Strafgesetzbuch.

So wollen es allerdings fast alle Parteien nicht diskussionslos stehen lassen. Allein das Gesundheitsministerium mit Ministerin Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) hält daran fest. Es solle auch in Zukunft die Entscheidung der betroffenen Schwangeren sein, ob sie ihr Kind austragen will, bei dem besagte "ernste Gefahr" einer schweren Behinderung bestehe, heißt es auf Nachfrage aus dem Ministerium.

Diese Regelung hält auch die Feministin und Autorin Eva Rossmann für "grundsätzlich gut, weil der Druck der Strafe wegfällt", wie sie sagt. Das heiße aber noch lange nicht, dass die Abtreibung eines behinderten Kindes die richtige Entscheidung in dieser schwierigen ethischen Frage sei. Damit werde lediglich der Konflikt entschärft.

An der Fristenlösungwill niemand rütteln

Es ist ein Thema, das polarisiert. Zum Recht der Frau, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, tritt das Recht auf Leben des Ungeborenen. Von den Optionen, die zur Wahl stehen, ist keine positiv konnotiert. Einer Abtreibung steht ein Leben mit einem behinderten Kind gegenüber.

An der Fristenlösung an sich, die der Nationalrat 1973 verabschiedete, und die Österreichs erste Frauenministerin Johanna Dohnal (SPÖ, 1990 bis 1995) später als "großen Erfolg der Frauenpolitik" bezeichnete, will niemand rütteln. Allen voran drängt aber die FPÖ auf eine Abschaffung der eugenischen Indikation - also des Abbruchs einer Schwangerschaft, der darauf basiert, dass ein Arzt in der Pränataldiagnose eine schwere Erkrankung respektive Entwicklungsstörung des Ungeborenen festgestellt hat. Die eugenische Indikation sei eine klassische Selektion, sagt FPÖ-Gesundheitssprecherin Dagmar Belakowitsch. Damit töte man lebensfähige Kinder, die nicht in die gesellschaftliche Norm passen. Behindertensprecher und dritter Nationalratspräsident Norbert Hofer habe bereits vor Jahren eine entsprechende Petition initiiert, die jedoch keine Beachtung und Mehrheit im Parlament gefunden habe. Die Abschaffung der eugenischen Indikation wäre ein Thema, so Belakowitsch, das man auf breiter Basis diskutieren müsse.

Die ÖVP möchte die Möglichkeit, behinderte Kinder außerhalb der Fristenregelung bis zur Geburt abtreiben zu können, ebenfalls kritisch hinterfragen, heißt es auf Nachfrage. Auch diese fordert eine "vorurteilsfreie Diskussion auf politischer Ebene mit Betroffenen und Experten, ob die Bestimmungen zur Spätabtreibung noch zeitgemäß sind". Das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen werde damit schwer missachtet. Vielmehr müsse man die werdenden Eltern durch verbesserte Rahmenbedingungen ermutigen, sich zu einem behinderten Kind zu bekennen.

Für eine umfassende Beratung, sobald eine Behinderung bekannt wird, treten auch die Grünen ein. "Damit sich Eltern genauso für ein behindertes Kind entscheiden können", sagt Gesundheitssprecherin Eva Mückstein. Eine bessere finanzielle und therapeutische Unterstützung wären dabei genauso wichtig wie die Verlängerung der Mutterschutzfrist auf zwölf Wochen nach der Geburt eines behinderten Kindes. Der strafrechtliche Rahmen solle jedoch nicht verschärft werden. "Die Grünen sind für eine Beibehaltung der Fristenlösung im Strafrecht, aber für eine Entkriminalisierung der Frauen."

Einen gesellschaftlichen Diskurs und eine Neubetrachtung unter Zuziehung von Experten: Das fordern auch die Neos, für die laut Gesundheitssprecher Gerald Loacker eine differenziertere Betrachtung im Vordergrund steht. Nicht jede eugenische Indikation sei gleich. "Es ist einfach nicht dasselbe, ob ein Kind ein Down-Syndrom hat und potenziell einem schönen und erfüllten Leben entgegenblickt, oder ob ein Fötus kein Gehirn hat und nach der Geburt sofort sterben würde." Die medizinischen Diagnosemöglichkeiten seien schon weit genug fortgeschritten, um in der Pränataldiagnostik differenziertere Aussagen zu treffen. Sämtliche Arten einer schweren Behinderung über einen Kamm zu scheren, sei zu einfach.

Peter Pilz, der mit der Liste Peter Pilz bei der Nationalratswahl am 15. Oktober antritt, ist gegen Spätabtreibungen behinderter Kinder - und zwar aus persönlichen Gründen. "Ich habe immer die Rechte der Frauen vertreten und war immer für die Fristenlösung. Für mich ist aber Theresia Haidlmayr (ehemalige Behindertensprecherin der Grünen, die die Glasknochenkrankheit hat und im Rollstuhl sitzt, Anm.) ein so besonderer Mensch, dass ich mich frage: ,Dich hätte es gar nicht geben sollen?‘", sagt Pilz.

Diese Frage stellt auch Behindertenanwalt Hansjörg Hofer. Die Möglichkeit, Kinder mit Behinderung bis unmittelbar vor der Geburt straflos abzutreiben, ist seiner Ansicht nach nicht nur diskriminierend, sondern "stellt auch das Leben an sich in Frage". Allein die bestehende Regelung, dass Schwangerschaftsabbrüche nach den ersten drei Monaten straflos sind, wenn eine Gefahr für die Mutter besteht, hält Hofer für sinnvoll. Eine kurzfristige Lösung sieht er allerdings nicht. Dafür sei das Thema viel zu brisant, zu emotional, weil es tief in die ideologischen Grundeinstellungen hineinreiche.

Das ist vermutlich auch der Hauptgrund, warum es bis heute nahezu unangetastet blieb. Eine Gesetzesänderung welcher Art auch immer schien allein aufgrund der konträren Positionen von SPÖ und ÖVP bisher unwahrscheinlich. Das Komitee der UN-Staatenprüfung hat Österreich bereits 2013 dafür gerügt: Es empfahl dem Vertragsstaat, jegliche Unterscheidung des Zeitrahmens, in dem ein Schwangerschaftsabbruch nach dem Gesetz ausschließlich aufgrund von Behinderung möglich ist, abzuschaffen.

Änderung bei der künstlichen Befruchtung vor zwei Jahren

Vor zwei Jahren, als das Fortpflanzungsmedizingesetz novelliert wurde, gab es lediglich eine Änderung bezüglich künstlicher Befruchtungen: In Ausnahmefällen kann nun die Präimplantationsdiagnostik (PID) etwa zur Verhinderung schwerer, nicht behandelbarer Krankheiten eingesetzt werden. Das bedeutet, dass künstlich erzeugte Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter genetisch nach schweren Erbkrankheiten untersucht werden dürfen. Diese Freigabe der PID unter bestimmten Voraussetzungen hatte auch die Bioethikkommission empfohlen. Bezüglich Spätabtreibungen gibt es von dieser keine Empfehlung.

Deutschland hat die Abtreibung aus eugenischen Gründen 1995 abgeschafft. An deren Stelle trat die medizinische Indikation, die etwa auch in der Schweiz einen Abbruch straflos stellt. Spätabtreibungen nach der Frist sind dort nur erlaubt, um eine schwerwiegende körperliche Schädigung oder eine schwere seelische Notlage der Schwangeren abzuwenden. Da allerdings auch diese Formulierung viel Spielraum lässt, ist die Situation in Deutschland fast schon wieder mit jener in Österreich zu vergleichen.

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche blieb jedenfalls nach Abschaffung der eugenischen Indikation gleich hoch. Aktuell treiben in Deutschland nationalen Statistiken zufolge sechs von 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren ab. Auch die meisten anderen europäischen Länder unterscheiden sich lediglich in der Bezeichnung der Indikation (medizinisch, embryopathisch, eugenisch) - die Praxis ist ähnlich.

Womit Österreich allerdings heraussticht, ist, dass es hier keine Statistiken zu Abtreibungen und Spätabbrüchen gibt. Lediglich Schätzungen zufolge ist der Anteil der Frauen, die abtreiben, etwa gleich hoch wie jener in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der Schwangeren treiben nach der Prognose, ein voraussichtlich schwer behindertes Kind auszutragen, ab, schätzt man. Die konkrete Zahl soll im ein- bis zweistelligen Bereich liegen. Laut Aktion Leben kommen fünf Prozent aller Kinder mit irgendeiner Form von Beeinträchtigung zur Welt. Etwa zehn Prozent seien chromosomal, also genetisch bedingt. Das Down-Syndrom kommt Aktion Leben zufolge am häufigsten vor: Es betrifft rund die Hälfte aller chromosomalen Auffälligkeiten.

Gescheiterter Versuch, den Arzt aus der Haftpflicht zu nehmen

Diese können im Zuge eines Organscreenings oder einer Fruchtwasseruntersuchung festgestellt werden, die der Arzt erst nach dem dritten Schwangerschaftsmonat durchführen kann. Schätzungen zufolge nehmen etwa 85 Prozent der Schwangeren diese Möglichkeiten in Anspruch. Besteht keine medizinische Notwendigkeit wie etwa ein erhöhtes Risiko für eine Chromosomenschädigung aufgrund familiärer Vorbelastung oder ein höheres Alter der Schwangeren, übernimmt die Krankenkasse die Kosten nicht. Kommt ein Kind behindert zur Welt und wurden die Eltern vom Arzt nicht über eine mögliche Behinderung informiert, haftet dieser. Eine von der damaligen Justizministerin Claudia Bandion-Ortner (ÖVP) 2011 angestrebte Gesetzesänderung, Ärzte aus der Haftpflicht zu nehmen, kam nicht zur Umsetzung.

Obwohl eine Behinderung vermutlich selten mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, weiß man aufgrund der fortschreitenden medizinischen Möglichkeiten immer präziser über das Ungeborene Bescheid. Was bleibt, ist laut Weikert dennoch die Frage: "Was soll man mit diesem Fortschritt, diesem Wissen tun?" Die Gesellschaft hinke hinterher. "Egal, welchen Weg Betroffene wählen - sie werden dafür oft verurteilt."

Am Freitag, dem 15. September, läuft der Film "Die dritte Option" von Thomas Fürhapter österreichweit in den Kinos an. Dieser setzt Einzelschicksale im Zeitalter der Pränataldiagnostik in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang und räumt dadurch den Blick auf grundsätzliche Fragen zu Geburt, Ethik und Norm frei.

Siehe dazu auch die Filmkritik: Völlig allein gelassen

Link: http://diedritteoption.at/