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Über das Kommen und Gehen

Von Simon Rosner

Politik

Der Arbeitsmarkt hat in den vergangenen zwei Legislaturperioden wichtige Zäsuren erlebt. Was hat sich verändert?


Wien. Das Jahr 2008. Die Wirtschaftsdaten in Österreich sind günstig, in den beiden vorangegangenen Jahren ist die Konjunktur jeweils deutlich über drei Prozent gelegen, und Arbeitsminister Martin Bartenstein verkündet, dass man der Vollbeschäftigung schon sehr nahe sei.

Als aber die Österreicherinnen und Österreicher am 28. September einen neuen Nationalrat wählen, ist bereits klar, dass die Zeit des wirtschaftlichen Brummens vorbei ist. Zwei Wochen vor der Wahl hat in New York die US-Bank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet. Damit kam eine Lawine ins Rollen.

Heute weiß man: Die Folgen dieser Pleite waren weitreichender, als man damals erahnt hatte. Aus einer Finanzkrise wurde eine tiefe, weltweite Wirtschaftskrise mit nachhaltigen Folgen. In Österreich kletterte die Arbeitslosigkeit bis zum Vorjahr beständig nach oben und erreichte Rekordwerte.

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang zwei einander verblüffend ähnliche Zahlen. Von jener Personengruppe, die damals wählen durfte, also österreichische Staatsbürger, waren im Jahr 2008 durchschnittlich 2.939.854 Personen in Beschäftigung. 2016 waren es dann 2.935.182. Das ist also beinahe der Wert von 2008, dem letzten Jahr vor der Krise, dem Jahr, als Bartenstein noch die Vollbeschäftigung kommen sah.

Wenn man nun bedenkt, dass die österreichische Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in diesem Zeitraum um fast 100.000 Personen abgenommen hat, ergibt sich daraus sogar eine höhere Erwerbsquote (Arbeitende plus Arbeitslose) bei dieser Bevölkerungsgruppe.

Nun zwei weitere interessante Zahlen: Im Vorkrisenjahr 2008 waren 173.996 Österreicherinnen und Österreicher arbeitslos, acht Jahre später waren es 255.521. Das entspricht einem Anstieg um fast 50 Prozent. Was ist hier passiert? Warum ist die Zahl der beschäftigten Österreicher acht Jahre nach der Krise fast identisch, die Zahl der Arbeitslosen aber so massiv gestiegen? Wer sind diese "zusätzlichen" Erwerbspersonen?

Zunächst mag der Fokus auf Inländer auf dem Arbeitsmarkt wenig sinnvoll erscheinen. Aber erstens sind nun einmal ausschließlich diese wahlberechtigt und können damit auch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik mitbestimmen. Zweitens ist diese Betrachtungsweise auch deshalb angebracht, da in dem Zeitraum 2008 bis 2016 nicht nur das Elementarereignis der Wirtschaftskrise hineinfällt, sondern auch eine weitere Zäsur: In zwei Etappen fielen die Zugangsbeschränkungen für Arbeitskräfte aus den Erweiterungsstaaten im Osten und Südosten Europas.

Das bedingte, dass sich die Zahl der Erwerbspersonen aus diesen 13 neuen Mitgliedsländern seither deutlich erhöht hat. Und zwar ziemlich genau um 170.000 Personen. Auch aus den "alten" EU-Staaten wie Deutschland gab es eine fortgesetzte Migration in den österreichischen Arbeitsmarkt, wobei das Plus mit rund 42.000 Personen geringer ausfiel. Damit erklärt sich, welche Gruppe besonders vom Beschäftigungszuwachs der vergangenen Jahre profitiert hat. Es sind Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland.

Die Politik hat darauf reagiert, und sie tut es im Wahlkampf erneut. Die FPÖ fordert sogar eine sektorale Schließung des Arbeitsmarktes für EU-Ausländer. Das ist der radikalste Ansatz, doch er widerspricht EU-Recht, denn Unionsbürger müssen Inländern gleichgestellt sein. Laut Generalsekretär Herbert Kickl sei dieses Recht aber "nicht in Stein gemeißelt", man könne sich diesem auch widersetzen. Als Beispiel führt Kickl die deutsche Maut an. Gegen diese geht Österreich allerdings auch juristisch vor.

Stellen für Personen im Inland

Die SPÖ versucht, mit einer Art Umgehung steuernd einzugreifen. So soll in Branchen mit hoher Arbeitslosigkeit künftig eine Arbeitsmarktprüfung klären, ob die Stelle von einem Beschäftigungslosen im Inland besetzt werden kann. Nur wenn dies nicht der Fall ist, soll eine Person aus dem Ausland den Job erhalten dürfen.

Die Differenzierung verläuft im SPÖ-Modell nicht zwischen Inländern und Ausländern, sondern zwischen im Inland bzw. im Ausland gemeldeten Personen. In diesem Sinn ging die Regierung bereits beim Beschäftigungsbonus vor. Gefördert werden dabei nur Arbeitslose, die in Österreich gearbeitet haben oder ausgebildet wurden. Derzeit prüft die EU-Kommission aber noch, ob diese Konstruktion nicht doch eine indirekte Diskriminierung von Unionsbürgern darstellt.

Auch die ÖVP will steuernd eingreifen, allerdings nur indirekt. Primär geht es bei den von Sebastian Kurz geforderten Maßnahmen, von der Indexierung der Familienförderung bis zur Wartezeit für den Zugang zur Mindestsicherung, darum, "Zuwanderung ins Sozialsystem zu stoppen", wie er mehrfach betonte. Natürlich soll dies die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten abschwächen, die Arbeitsmigration aber möglichst nicht beeinträchtigen. Bereits jetzt kann sich kein Unionsbürger in Österreich ansiedeln und sofort hier Mindestsicherung beziehen. Er muss davor nachweislich hier gearbeitet haben. Längere Fristen sollen aber dazu führen, dass bei Job-Verlust wieder eine Rückkehr stattfindet.

Doch auch bei Kurz’ Plänen spießt es sich mit dem EU-Recht. So hat die EU-Kommission erst vor einigen Monaten Österreich und Deutschland eine Absage erteilt, die Familienbeihilfe für EU-Ausländer an die Lebenskosten der Herkunftsländer anzupassen.

Die Forderungen von SPÖ, ÖVP und FPÖ offenbaren, wie schwierig es für die nationale Politik geworden ist, steuerend in die Arbeitsmigrationen eingreifen zu können. Neos und Grüne wollen dies auch explizit nicht. Sie erachten die Freizügigkeit als höheres Gut. Grundsätzlich sei es zwar schon sinnvoll, eine "qualifikationsorientierte Zuwanderungspolitik" anzustreben, sagt Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer vom IHS. Die Frage ist, mit welchen Mitteln dies versucht wird. "Und ob die Wirtschaft nicht lieber billige Arbeitskräfte will, ist eine andere Sache", so Hofer.

Es ist aber generell nicht so einfach zu beantworten, ob eine Beschränkung der EU-Migration überhaupt sinnvoll ist. Haben EU-Ausländer die neu geschaffenen Jobs erhalten, weil sie billiger oder besser waren als Arbeitskräfte in Österreich, oder sind diese Stellen überhaupt erst geschaffen worden, weil günstigere und/oder besser qualifizierte Personen aus dem EU-Ausland Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten haben? "Beides", sagt Hofer. "Ich kenne aber leider keine wissenschaftliche Methode, mit der man das exakt zerlegen könnte."

Gastro-Branche im Umbruch

Ein Beispiel: In der Gastronomie ist seit 2008 die Zahl der österreichischen Beschäftigten zurückgegangen und jene der ausländischen Arbeitnehmer um mehr als ein Drittel gestiegen. Das sieht auf den ersten Blick nach Verdrängung aus, muss es aber nicht sein. So war nämlich schon 2008 die Arbeitslosenquote in der Gastronomie unter Inländern außergewöhnlich hoch. Sie lag damals bei 16 Prozent, und das erklärt sich nur zum Teil durch Saisonarbeit.

Wie Doris Litschauer vom AMS Wien berichtet – sie ist Leiterin im Bereich Gastro/Tourismus – wollen immer mehr die Branche verlassen, und der Lohn sei dabei nicht das Hauptargument. "Es hängt weit mehr dran: die körperliche Anforderung, Zeitmanagement, Stress und familienunfreundliche Arbeitszeiten." Viele, die in der Krise und den Jahren danach ihre Jobs verloren haben, nehmen die Gelegenheit wahr, um der Branche den Rücken zu kehren, erzählt Litschauer.

Gerade in der Gastronomie ist viel passiert. Zu den ohnehin schon vielen Verordnungen sind weitere hinzugekommen, die Rauchergesetzgebung hat sich mehrfach verändert, die Registrierkasse hat auch ihre Auswirkungen gehabt und in Wien ist die Schanigartengebühr empfindlich angestiegen. Das und mehr hat dazu geführt, dass sich die finanziellen Aufwendungen für die Wirte erhöht haben. Gespart werden muss dann eben beim Personal, das dann mehr leisten muss, also auch mehr Stress hat. "Das ist eine Spirale", sagt Litschauer.

Eine Unternehmerin, die ein Lokal eröffnen will, muss vorher ihre Kosten berechnen. Wenn ihr nun mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die bereit sind, für einen geringeren Lohn zu arbeiten, wird es mehr Gründern möglich sein, ein Lokal zu eröffnen. Das ist trivial und auch der Hauptgrund, warum vonseiten der Wirtschaft strikt gegen Begrenzungen argumentiert wird.

Natürlich könnten die Menschen auch mehr für Essen und Trinken bezahlen, im Vergleich zu Skandinavien, der Schweiz, den Benelux-Staaten aber auch Deutschland ist Essen und Trinken hierzulande in Lokalen recht günstig. Aber offenbar können die Wirte nicht mehr verlangen, sie würden es sonst tun.

Größeres Arbeitskräfteangebot

Die Gastro-Branche ist aber nur ein Beispiel, das zeigt, dass auf dem heimischen Arbeitsmarkt sehr viel im Umbruch ist. In zahlreichen Jobs steigen die Anforderungen, etwa durch den technologischen Fortschritt. Wer sich diesem nicht anpasst, das heißt, sich fortbildet, hat es zunehmend schwer, mitzuhalten.

Das heute größere Arbeitskräfteangebot im Vergleich zum Jahr 2008 bietet den Unternehmen bessere Möglichkeiten, auf die geänderten Anforderungen zu reagieren. Das lässt sich auch daraus herauslesen, dass die Arbeitslosenquote bei Personen mit maximal Pflichtschule von 14 Prozent im Jahr 2008 auf 26 Prozent nach oben geklettert ist.

Vor allem Arbeitskräfte aus den klassischen Gastarbeiterländern sind in den vergangenen Jahren unter Druck geraten. "Dass ein junger polnischer Gastarbeiter einen 50-jährigen Türken verdrängt, glaube ich schon", sagt IHS-Forscher Hofer. Ein Blick auf die Daten der Baubranche offenbart dies auch. Die Arbeitslosenquote in der Bau-Branche unter Türken ist seit 2008 von 12,5 Prozent auf 21,9 Prozent gestiegen, bei Slowaken dagegen von 15,6 Prozent auf 8,6 Prozent gefallen.

Auch insgesamt zeigt sich, dass die Arbeitslosenquote bei Personen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien markant gewachsen ist. Die absolute Zahl der Beschäftigten nimmt ab, jene der Arbeitslosen ist aber um 100 Prozent gestiegen. Verglichen mit der Gruppe der österreichischen Staatsbürger, wie zu Beginn dieses Textes erwähnt, ist die Situation dieser Personen also noch deutlich schwieriger.

Das Arbeitskräfteangebot ist aber nicht nur durch Zuwanderung angewachsen. Die Menschen arbeiten länger. Der Zugang zur Frühpension wurde erschwert, die befristete Invaliditätspension abgeschafft. Das ist auch einer der wichtigsten Gründe, weshalb die österreichische Erwerbsbevölkerung (Arbeitende plus Arbeitssuchende) gestiegen ist, obwohl es weniger Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahren) gibt.

Länger im Erwerbsleben

Auch allgemein ist zu sehen, dass die Beschäftigungsquote in den ersten drei Lebensjahrzehnten gesunken ist, was auf eine längere Ausbildung hindeutet, ab dem 50. Lebensjahr stieg sie im Vergleich zu 2008 an. Blickt man auf die Erwerbsquote, in der auch die Arbeitslosen eingerechnet sind, offenbart sich, dass hier noch größere Zuwachsraten zu verzeichnen sind.

Vor allem in der Alterskohorte der 55- bis 59-Jährigen ist die Zahl der Arbeitslosen deutlich gestiegen. Und es gibt einen weiteren bedeutsamen Effekt. Nach wie vor steigt die Erwerbsbeteiligung der Frauen, und sie bleiben auch länger auf dem Arbeitsmarkt. Letzteres ist zwar auch bei Männern nachzuweisen, doch nicht einmal ansatzweise in dieser Ausprägung. 2008 haben 44 Prozent der 55- bis 59-jährigen Frauen gearbeitet oder haben aktiv Arbeit gesucht, nun liegt die Erwerbstätigenquoten bei 60 Prozent. Für diesen kurzen Zeitraum ist das ein gewaltiger Anstieg.

Der heimische Arbeitsmarkt war also seit 2008 gleich mehreren Entwicklungen ausgesetzt. Die Krise hat zu einem plötzlichen Verlust von Arbeitsplätzen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt; trotz anhaltend schwacher Konjunktur wurden aber dennoch neue Jobs geschaffen und sogar Beschäftigungsrekorde aufgestellt, doch das Arbeitskräfteangebot entwickelte sich noch dynamischer – durch Zuwanderung, durch längeres Arbeiten, und hinzu kam, dass es in einzelnen Branchen Abwanderungstendenzen österreichischer Arbeitskräfte gibt oder sich diese noch verstärkt haben.

Das Job-Wachstum in jenen Jahren war zudem insofern ein spezifisches, weil es vor allem Stellen mit atypischen Verhältnissen betraf. Das heißt also: mehr Teilzeit, mehr geringfügige Jobs, mehr kurze Jobs, die nach nur wenigen Monaten endeten. Diese Dynamik hat auch das ihre dazu beigetragen, dass sich die Arbeitslosigkeit in Österreich zunehmend verfestigt hat.

Im Jahr 2008 lag der Anteil der Langzeitbeschäftigungslosen an allen Arbeitslosen bei 16,3 Prozent. Bis zum Jahr 2016 ist dieser auf 34,1 Prozent angestiegen, liegt also gegenwärtig schon bei mehr als einem Drittel. Das ist insofern problematisch, da aus verschiedenen Gründen die Wahrscheinlichkeit, eine neue Stelle zu finden, abnimmt, je länger die Arbeitslosigkeit andauert.

"In der Krise haben sich die Betriebe von jenen getrennt, die sie leichter entbehren konnten", sagt Helmut Mahringer, Arbeitsmarktexperte beim Wifo. Gerade jene Gruppe, die älter, unqualifizierter, unproduktiver ist, hat es dann aber weit schwerer, wieder in Beschäftigung zu gelangen. Ab 2011 öffnete sich dann der heimische Arbeitsmarkt für Bewerber aus Osteuropa – für jüngere, zum Teil besser qualifizierte, billigere Arbeitskräfte. Wobei in erster Linie in Österreich arbeitende Ausländer von Verdrängung betroffen waren sowie ältere Personen. Vor allem natürlich in Kombination.

Sicherung des Sozialstaates

Die Entwicklungen, die sich seit 2008 auf dem Arbeitsmarkt zeigen, werfen Fragen auch in anderen Bereichen auf. Denn Teilzeitjobs, Befristungen und Arbeitsunterbrechungen führen zu mehr Altersarmut, gleichzeitig aber zu geringeren Einzahlungen in die sozialen Sicherungssysteme. Und Personen, die von Leistungen der Wohlfahrt ausgeschlossen sind, werden in Städten zu einem wachsenden Problem. So hat sich in Wien unter ausländischen Arbeitskräften ein Bettgängertum wie um 1900 entwickelt.

Ob in einer alternden Gesellschaft bei steigender Erwerbsbeteiligung und fortschreitender Digitalisierung ausreichend Jobs vorhanden sein werden, ist eine weitere Frage. "Arbeitslosigkeit im Alter wird in Zukunft noch zunehmen", sagt Mahringer.

In den Wahlprogrammen der Parteien finden diese Themen wenig Niederschlag – mit Ausnahme der SPÖ und teilweise der Grünen, die ihren Fokus aber auf eine bessere Absicherung von Ein-Personen-Unternehmen, einen höheren Mindestlohn (1750 Euro) und Arbeitszeitverkürzung legen. Die SPÖ fordert unter anderem eine Beschäftigungsgarantie für Ältere (ähnlich der laufenden Aktion 20.000), thematisiert wird aber auch der Teilzeit-Boom und seine volkswirtschaftlichen Auswirkungen. Außerdem sollen bei neueren Formen der Arbeit, etwa bei Praktika und bei Crowdworking (Uber, Foodora und dergleichen) die Bezahlung und der arbeitsrechtliche Schutz verbessert werden.

Dass sich im Jahr 2017 die Situation auf dem Arbeitsmarkt wieder etwas entspannt hat und die Arbeitslosigkeit nach Jahren wieder sinkt, ist zwar erfreulich, eine nahende Vollbeschäftigung, wie sie 2008 Minister Bartenstein kommen sah, ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil. Vielmehr dürfte Vollbeschäftigung drauf und dran sein, zu einem historischen Begriff zu werden.