Wien. Eigentlich ist der Sozialstaat in Österreich gut ausgebaut: Der Staat hat 2016 laut Statistik Austria von insgesamt 179 Milliarden Euro 122, also 68 Prozent für soziale Sicherung, das Gesundheits- und das Bildungswesen ausgegeben.

Eigentlich, denn wie das Beispiel einer 59-jährigen in Krems lebenden Österreicherin zeigt, können sich neue gesetzliche Regelungen der jüngsten Zeit als dramatische Kürzung auswirken. Wegen Eigenbedarf ihres Vermieters wurde die arbeitssuchende 59-Jährige obdachlos. Sie fand keine leistbare Wohnung, zog mit 844,46 Euro Mindestsicherung in die Krisennotwohnung der Frauenplattform Krems das Sozialamt des Bezirks kürzte der Frau ihre Leistungen auf 226,81 Euro.

Wie kam das? In der Krisenwohnung für obdachlose Frauen stehen insgesamt sechs Zimmer zur Verfügung, das Sozialamt wertete alle Bewohnerinnen - unabhängig davon, dass jede für sich ihren Lebensunterhalt alleine bestreiten muss und keine gegenseitigen Unterhaltsansprüche bestehen - als Haushaltsgemeinschaft. Und für solche ist die Mindestsicherung in Niederösterreich bekanntlich seit Jänner 2017 auf 1500 Euro pro Haushalt gedeckelt. Das wirkt sich ähnlich wie die Reform in Oberösterreich auf die Beziehenden zum Teil als drastische Kürzung der Leistung aus.

Die Frau selbst will mit Medien nicht über ihre Situation sprechen. Aber man hört auch Margarete Purkarth, Obfrau des Vereins, der die Krisenwohnung betreibt, die Ungläubigkeit für solche Absurditäten deutlich an: "Frauen, die bei uns einziehen, werden ärmer als davor. 220 Euro reichen nicht aus, um ein Leben zu finanzieren. Aber was sag ich, man verhungert eigentlich dabei."
Zu den rhetorischen Tricks, wen Kürzungen treffen
Sozialexperte Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Plattform Armutskonferenz, der sich im Buch "Genug gejammert!" gemeinsam mit dem Gesundheits- und Wirtschaftsjournalisten Martin Rümmele mit der Frage, warum Österreich gerade jetzt ein starkes, soziales Netz braucht, auseinandersetzt, sagt: "Es ist also ein rhetorischer Trick, wenn Politiker sagen, dass sie Leistungen nur für Ausländer oder Flüchtlinge kürzen."
Die Mindestsicherungsreformen seien wie ein "trojanisches Pferd": "Sie lenken wie Trickdiebe vorne ab, und ziehen den Leuten hinten das Geld aus der Hosentasche. Schließlich kommt es nicht so cool, wenn man ganz offen sagt, dass es auch die österreichische Alleinerzieherin trifft, wenn sie arbeitslos wird."
Konkret geht es um 307.533 Personen, die laut Auskunft des Sozialministeriums im Laufe des vergangenen Jahres einige Zeit lang Mindestsicherung bezogen. Insgesamt bezahlte der Staat 874,4 Millionen Euro an sie aus. Klingt nach viel, ist es aber nicht: Pro Person flossen während des Leistungsbezugs 343 Euro monatlich. Außerdem ist es nur ein Bruchteil dessen, was der Staat für andere Leistung ausgibt: Das Militär hat 2016 zum Beispiel 2,2 Milliarden, also zweieinhalb mal so viel gekostet.
Sozialstaatlicher Ausgleich
von Armut
"Die Mindestsicherung kommt von allen Leistungen des Sozialstaates am meisten den zehn Prozent mit dem geringsten Haushaltseinkommen zu Gute, mehr noch als Notstandshilfe, Arbeitslosengeld und die Wohnungsbeihilfe", sagt Christine Mayrhuber, die sich als Ökonomin am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo mit Einkommen und sozialer Sicherung auseinandersetzt.
Die vom Wifo im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie zu sozialstaatlichen Geld- und Sachleistungen zeigt, dass die Wohnbeihilfe 2010 zu 34,5 Prozent an das ärmste Einkommmenszehntel der Haushalte floss, bei der Arbeitsmarkt-Leistung waren es 36,8 Prozent, die damalige Sozialhilfe, die durch die Mindestsicherung der Bundesländer ersetzt wurde, aber zu 52,5 Prozent. Der Sozialstaat hilft also gegen direkte Armut, sagt Schenk: "Ohne Sozialstaat wären in Österreich 40 Prozent von Armut gefährdet, mit Sozialstaat sind es 12 Prozent."
Zur Absicherung des Lebensstandards der Ärmsten tragen laut Wifo-Studie aber auch staatlich finanzierte Bildungsleistungen wie Universitäten und Schulen, Familienleistungen und Kindergärten, aber auch das Gesundheitswesen wesentlich bei. Für Letzteres gab der Staat 2016 laut Statistik Austria übrigens 28,3 Milliarden Euro, für die Bildung 17,5 und für Familien mit Kindern 8,1 Milliarden Euro aus.
Gesellschaftliche Prävention vor unkalkulierbaren Risiken
Vom österreichischen Sozialstaat profitieren nicht nur die unteren Einkommensschichten. Bildungs-, Gesundheits- und Pflege-, Familienleistungen kommen laut Wifo-Studie allen zugute. Kostenlose Leistungen oder Geldtransfers sind für zwei Drittel der Haushalte von großer Bedeutung für das Haushaltseinkommen. Bei den Bildungsleistungen sind es überhaupt nur die obersten zehn Prozent der reichsten Haushalte, die die rund elf Prozent, um die die kostenlosen Bildungsangebote das Haushaltseinkommen erhöhen, selbst finanzieren könnten.
Der Sozialstaat sichert also auch die Mittelschicht über die Solidarsysteme ab. "Es geht viel weniger darum, von Leistungsstarken zu sozial Schwachen umzuverteilen, als um Risiken abzusichern", sagt Markus Marterbauer, Wirtschaftswissenschaftler und Verteilungsexperte der Arbeiterkammer. "Die Hauptumverteilung findet von Gesunden zu Kranken, von jenen ohne zu jenen mit Kindern, von Erwerbstätigen zu Pensionisten statt."