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Der Problemfall Pflege

Von Martina Madner

Politik

Wenn der "würdevolle Lebensabend" Realität bleiben soll, braucht es eine Pflegereform.


Wien. Da ist vom "würdevollen Lebensabend" die Rede. Menschen sollen "so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können". Es sei "unbezahlbare Arbeit", floskelt das ÖVP-Wahlprogramm zum Thema Pflege dahin. Nahezu trocken muten die Vorschläge im FPÖ-Wahlprogramm an. Da ist von besserer Bezahlung der Berufe, einer "jährlichen Valorisierung des Pflegegeldes" und "dem Ausbau der stationären Pflegeeinrichtungen" die Rede. In beiden Programmen kein Wort zur Finanzierung oder einer echten Reform.

Dabei gibt es in der Pflege eine ganze Reihe an Problemen, die die künftige Regierung lösen muss, um Menschen im Alter einen würdevollen Lebensabend mit Pflege zu ermöglichen.

Die Gruppe, die Pflege braucht, wächst

Die Baby-Boomer-Generation erreicht ab 2020 das Pensionistenalter, in den Jahren danach zunehmend jenes, wo man Pflege benötigt. Während der Anteil der Menschen im Alter von 80 plus 2015 rund fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung ausmachte, werden es 2050 laut Bevölkerungsprognose der Statistik Austria 11,5 Prozent sein. Die Menschen in Alter, wo man mit hoher Wahrscheinlichkeit Pflege benötigt, verdoppeln sich also.

Es wird weniger pflegende Familienmitglieder geben

Heute werden zwei Drittel Pflegegeldbeziehende durch nahe Familienangehörige versorgt, insbesondere durch Ehepartner(innen) und Töchter, wie eine aktuelle Studie der Wifo-Pflege-Expertin Ulrike Famira-Mühlberger zeigt. Das wird vermutlich nicht so bleiben. Denn die Gruppe der 50- bis 64-Jährigen, die sich heute vor allem um ihre betagteren Familienmitglieder kümmert, wächst nicht mit den über 80-Jährigen mit. Während heute auf 100 Personen in diesem Alter 12 über 80-Jährige kommen, sind es 2050 34 — also fast drei Mal so viele. Aber nicht nur das: Mit mehr Ein-Personen-Haushalten nach Scheidungen oder Trennungen gibt es weniger pflegende Partner(innen). Außerdem werden Frauen länger und häufiger erwerbstätig sein, sie haben damit weniger Zeit für Pflege.

Man wird gesünder alt, braucht aber Hilfe

Vor nicht ganz 20 Jahren, 1999, durften sich 65-jährige Männer noch auf weitere 15,6 Lebensjahre freuen. 2,8 Jahre allerdings in schlechtem Gesundheitszustand. Heute sind es 18,2 bevorstehende Lebensjahre, davon aber nur 1,5 Jahre in Krankheit. Ähnlich bei Frauen: Eine 65-Jährige hatte 1999 im Durchschnitt weitere 19,3 Jahre an Lebenszeit vor sich — davon 3,7 mit Krankheiten. Die restliche Lebenserwartung von Frauen in diesem Alter erhöhte sich auf 21,5 Jahre, die Jahre mit schlechtem Gesundheitszustand verringerten sich zugleich auf 2,4 Jahre. Das spricht für weniger Pflegebedarf. Wobei die Wifo-Studie auch zeigt, dass der Anteil an älteren Menschen mit funktionalen Beeinträchtigungen seit Jahren annähernd konstant bleibt. Das wieder spricht für einen gleichbleibenden Bedarf an Unterstützung durch Pflegekräfte und Betreuungspersonen.

Die Kosten der Länder verdoppeln sich bis 2030

Schon alleine vor diesem Hintergrund gehen die Wifo-Experten Famira-Mühlberger, Matthias Firgo und Thomas Url von einer Verdoppelung der Pflegekosten für die Bundesländer, die vor allem Sachleistungen im Pflegebereich finanzieren, bis zum Jahr 2030 aus. Was 2014 1,8 Milliarden Euro kostete, wird sich 2030 mit 3,8 Milliarden zu Buche schlagen. Besonders hohe Kostensteigerungen sind übrigens in Vorarlberg, Tirol und Salzburg zu erwarten.

Laufend mehr Personen beziehen Pflegegeld

Schon in den vergangenen Jahren ist die Anzahl an Personen, die Pflegegeld beziehen, deutlich gestiegen. 1993 als diese Leistung eingeführt wurde, waren es rund 300.000 Personen, die Pflegegeld bezogen. 2015 aber waren es bereits rund 465.000. Und im Jahr 2030 werden es schon 635.000 sein. Damit steigen auch die Ausgaben für das Pflegegeld, und zwar ohne Inflationsabgeltung, von 2,5 auf 2,9 Milliarden Euro.

Es braucht mehr und teurere Pflegepersonen

Aktuell sind circa 62.000 Mensachen bei Pflegeinstitutionen beschäftigt. Davon arbeiten circa ein Viertel im mobilen Bereich, drei Viertel in Pflegeheimen. 2030 wird man laut Wifo-Prognose 76.000 Personen benötigen, 2050 sogar mehr als 100.000. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, konkret die Gewerkschaften Vida und GPA-djp sowie die Sozialwirtschaft Österreich, machten kürzlich darauf aufmerksam, dass es mehr Geld für die Arbeitskräfte braucht: als Anreiz, den Beruf zu wählen; bezahlte Schulungszeit; aber auch im Vergleich zu Ärzten. Alleine dadurch wird die Langzeitpflege um 200 Millionen Euro mehr pro Jahr kosten.

24-Stunden-Pflege ist Hilfe und nicht Pflege

Zwar erfreut sich die sogenannte 24-Stunden-Pflege zunehmend größerer Beliebtheit, echte "Pflege" ist sie aber nicht, sondern laut Gesetz vom Juli 2007 eine "Hilfe" bei der Haushalts- und Lebensführung. 85.300 Personen haben aktuell einen Gewerbeschein in der Personenbetreuung. 62.000 betreuen derzeit rund 25.000 Leute, die eine staatliche Förderung dafür erhalten. 2008 waren es übrigens erst 3200. Zwar engagieren sie Pflegegeldbeziehende der Stufe vier am häufigsten. Mehr als zwölf Prozent der Personenbetreuerinnen aber sind bei Menschen in den höchsten Pflegestufen sechs und sieben tätig - wo es zwar "echte" Pflege braucht, die Personenbetreuer(innen) aber eigentlich keine leisten dürfen. Laut Wirtschaftkammer dürfen sie Pflege nur "nach Anleitung und Unterweisung durchführen", was nicht nur ihre Qualifikation, sondern auch die Selbstständigkeit selbst in Frage stellt.

Qualität der Betreuung ist nicht gesichert

Die Vertreter der Personenberatung und -betreuung der Wirtschaftskammern Wien und Niederösterreich wiesen kürzlich darauf hin, dass die Zertifikate von Personenbetreuenden mit rund 300 Stunden der Ausbildung einer Heimhilfe entspricht. Pflegekräfte haben übrigens eine zumindest dreijährige Ausbildung. Erst im September wurde aber wieder einmal über gefälschte Zertifikate berichtet. Zwar gebe es laut Noch-Sozialminister Alois Stöger jährlich 5000 Kontrollen in der 24-Stunden-Betreuung. In der Wifo-Studie zum Thema steht aber vermerkt: "Regelmäßige Überprüfungen der Betreuungsqualität in den Haushalten finden nicht statt." Die Wirtschaftskammern rühmten sich, Kurse in den Herkunftsländern etwa zum Thema Demenz anzubieten. Ein Vermittler wies aber darauf hin, dass dieser Kurs in Rumänien gerade mal einer von 1000 Personenbetreuerinnen zu Gute kam.

24-Stunden echte Pflege ist nicht leistbar

Die Kosten für zwei 24-Stunden-Betreuerinnen, die sich im 14-tägigen Rhythmus abwechseln, betragen laut Wifo-Studie 2400 Euro monatlich. Nach Abzug des Pflegegeldes der Stufe 4 und der Förderung von 550 Euro muss der zu Pflegende oder seine Angehörigen noch 1200 Euro monatlich finanzieren. Unselbstständig Beschäftigte zu Hause wären mehr als doppelt so teuer. Und stationäre Pflege? Die kostet für Private um 900 Euro monatlich mehr. Die Bundesländer, die solche Sachleistungen finanzieren, müssten aber weitere 1400 Euro zuzahlen. Also hat auch die öffentliche Hand keinen Grund, qualitätsgesicherte Pflege anstelle von 24-Stunden-Betreuung zu fördern.

Zurück zu den im Wahlkampf versprochenen Vorhaben: Auf Nachfrage sprach Norbert Hofer bei der Präsentation des FPÖ-Programms von 4,75 Milliarden Euro an "Reibungsverlusten", die im Gesundheitssystem für die Finanzierung der Pflege zu heben seien. Er schlägt eine Bundesgenossenschaft, in die die mobile Pflege und 24-Stunden-Betreuung inkludiert werden, vor. Das wäre, siehe oben, wohl kaum leistbar.

Sebastian Kurz und Kollegen sprechen vom One-Stop-Shop für die Genehmigung von Geld- und Sachleistungen, besserer Pflegefreistellung und steuerlicher Absetzbarkeit. Dazu schlägt man "optimale Betreuungsmöglichkeiten", Richtlinien für die Betreuungsintensität und mehr "Kooperationen von Kindergärten mit Pflegeheimen" vor. Da braucht es wohl noch mehr Ideen, um die Pflegeprobleme zu lösen.