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Heilkräftiges Kamelblut

Von Peter Markl

Wissen

Wenn man der naiven Wissenschaftsfolklore glaubt, spielt der reine Zufall in den Wissenschaften nach wie vor eine wichtige Rolle. In der Realität der Labors allerdings kaum - und zwar umso weniger, je weiter entfernt von unmittelbaren Beobachtungen die Experimente sind, mit denen man Vermutungen zu testen versucht. Manchmal aber ereignen sich Episoden, in denen (fast) purer "Zufall" zu einer ungewöhnlichen Entdeckung führt.


Raymond Hamers, Immunologe an der Freien Universität Brüssel, hat in den Achtzigerjahren eine solche Episode erlebt. Er hatte in einem Praktikum für Immunchemie einige besonders wache Studenten, die von dem angebotenen Kursmaterial nicht sehr angetan waren: sie sollten, wie die Studenten in den Jahren zuvor, die Technik zur Isolierung von Antikörpern am Beispiel von Maus-Antikörpern erlernen, taten dies auch, baten jedoch darüber hinaus um die Erlaubnis, einmal ein anderes Übungsbeispiel zu machen.

Fremdstoff-Erkenner

Antikörper sind jene Proteinmoleküle, mit denen das körpereigene Immunsystem eingedrungene Fremdstoffe "erkennt" und ihre Eliminierung durch das Immunsystem einleitet. Hamers, der damals an einem Forschungsprogramm zur Bekämpfung der afrikanischen Schlafkrankheit arbeitete und herausfinden wollte, wie das Immunsystem von Kamelen und Wasserbüffeln mit der Infektion durch die bei Menschen die Schlafkrankheit auslösenden Trypanosomen umgeht, hatte im Kühlschrank des Labors noch einen halben Liter eingefrorenes Kamelblut. Davon wollte er etwas opfern: die Studenten sollten untersuchen, ob sie daraus mit den bekannten Methoden Kamel-Antikörper isolieren könnten. Sie fanden zwar - wie erwartet - alle Antikörpertypen, die man auch bei anderen Wirbeltieren findet, außerdem aber Antikörper, die wesentlich kleiner waren - sie hatten nur etwa zwei Drittel der Größe der bei Menschen analogen IgG-Antikörper.

Dieses Ergebnis war so irritierend, dass man dachte, bei den Versuchen müsse etwas grundlegend falsch gelaufen sein - vielleicht waren das Bruchstücke von anderen Antikörpern und damit Artefakte. Erst nachdem man in einer neuen Probe von Kamelblut aus Kenia das gleiche irritierende Resultat erhalten hatte, dämmerte dem Team, dass man da auf etwas völlig Verblüffendes gestoßen war.

Nach zwei Jahren penibler Arbeit zur Charakterisierung der neuen Antikörper war klar, dass es sich nicht um Artefakte handelte. Heute weiß man, dass diese Antikörper nicht etwa bloß eine Spezialität arabischer Kamele sind, sondern auch bei ihren Verwandten, also etwa bei Trampeltieren, Lamas und Vikunjas vorkommen. Es ist immer noch ein Rätsel, wieso es ausgerechnet bei diesen Tieren zur Evolution dieser immunologischen Besonderheit gekommen ist. (Nur die Haifische haben etwas Ähnliches geschafft - wie es scheint, ein Fall von konvergenter Evolution, bei der zwei gar nicht verwandte Abstammungslinien, konfrontiert mit einem ähnlichen Problem, zu ähnlichen Lösungen kommen.)

Die rätselhaften Kamel-Antikörper sind jedoch nicht nur eine evolutionäre Kuriosität - das war sofort klar geworden, als man auf sie gestoßen war. Die Idee, Antikörper als Hauptakteure bei der Immunantwort gezielt auch in der Therapie einzusetzen, ist natürlich schon alt und motiviert durch die extreme Selektivität ihrer Wechselwirkungen mit eingedrungenen Fremdstoffen - schließlich startet das Immunsystem nach einer Infektion aus einem fast unendlich großen Repertoire möglicher Antikörper eine Massenproduktion nur jener Antikörper, welche den Eindringling erkannt haben. Der Erkenntnis entsprang die Idee, dass es doch möglich sein müsste, solche Antikörper wie vorprogrammierte Trägerraketen zum Aufspüren von Pathogenen einzusetzen: sie sollten sehr selektiv die Eindringlinge aufspüren und, nachgerüstet mit Waffen zur Zerstörung der Eindringlinge, auch unschädlich machen können. Etwa durch die intensive Strahlung eines radioaktiven Atoms, das man in den Antikörper eingebaut hat, oder durch einen für den pathogenen Organismus toxischen Stoff, mit dem man den Antikörper koppelt. Die Selektivität der Antikörper sollten die sonst unvermeidlichen schädlichen Nebenwirkungen gering halten.

Solche schlichten Tagträume haben sich jedoch als sehr schwer zu realisieren herausgestellt. Es gab zwar wichtige Fortschritte in diese Richtung, aber die Entwicklung war wesentlich langsamer, als man erhofft hatte. Heute, mehr als drei Jahrzehnte nachdem man vom enormen Entwicklungspotential der Antikörper zu träumen begonnen hatte, gibt es erst etwa 20 therapeutische Antikörper am Arzneimittelmarkt, und immerhin einige Hundert weitere humanisierte Antikörper befinden sich im Entwicklungsstadium.

Anfangs waren auch die Kosten der Produktion großer Mengen von Antikörpern ein großes Hindernis. Dieses wurde 1975 überwunden, als man lernte, sogenannte monoklonale Antikörper zu erzeugen, die allerdings immer noch den Nachteil haben, dass sie nur in Zellkulturen von Säugetierzellen produziert werden können. Damit war ein erster entscheidender Schritt getan, aber einige der Folgeschritte waren leider reichlich ernüchternd. Die therapeutischen Antikörper waren ja selbst große Proteinmoleküle. Sie wurden daher vom Körper des Patienten als Fremdstoffe erkannt, gegen die er mit seinem eigenen Immunsystem vorzugehen begann, was vielfach gravierende Nebenwirkungen mit sich brachte.

Nebenwirkungen

Man hat mittels einer Reihe von Strategien versucht, diese Nebenwirkungen möglichst gering zu halten - etwa indem man mit gentechnischen Methoden die speziesfremden monoklonalen Antikörper normalen menschlichen Antikörpern möglichst ähnlich zu machen versuchte, oder indem man trachtete, alle jene Molekülregionen "wegzuschneiden", die bei der Erkennung der Pathogene keine Funktion hatten. Man endete bei viel kleineren modifizierten Molekülen, die dennoch im Idealfall ihre Antikörper-Funktion erhalten haben. Und das ist an sich schon vorteilhaft: große Antikörpermoleküle können nicht in Zellen eindringen, sodass ihnen alle Moleküle entgehen, die nicht an den Zelloberflächen zugänglich sind. Kleine Moleküle mit antikörperähnlichen Erkennungsfähigkeiten bieten daher ein wesentlich größeres Fahndungsgebiet.

Die Kamel-Antikörper sind an sich schon viel kleiner. Während ein Säugetier-Antikörper aus je zwei schweren und zwei leichten Ketten besteht, wobei die für die Erkennung von Fremdmolekülen entscheidende Region durch das Zusammenwirken der beiden Ketten möglich wird, bestehen Kamel-Antikörper nur aus den schweren Ketten.

Dass sie trotzdem ihre Erkennungsfunktion nicht verloren haben, ist wieder der Evolution zu verdanken: sie hat das eine Ende des Antikörpermoleküls so optimiert, dass es viele Erkennungsreaktionen allein schafft. Wenn man dann auch diese vergleichsweise kleinen Moleküle noch zurecht trimmt, landet man bei kleinen Proteinmolekülen, bei denen die Antikörperfunktion weitgehend erhalten ist. Und das führt dazu, dass diese kleinen Moleküle in die Zellen eindringen und dort Pathogene aufspüren können.

Was solcherart entsteht, hat man "Nanokörper" genannt. Verglichen mit monoklonalen Antikörpern, ist jedoch nicht nur ihre Kleinheit von Vorteil. Sie sind auch chemisch stabiler, so dass man sie zum Beispiel schlucken kann, ohne dass sie wie normale Antikörper im Magen abgebaut werden, bevor sie wirken können. Vor allem aber: sie sind viel billiger zu produzieren.

Man braucht dazu ein Kamel oder ein Lama und injiziert dem Tier das Antigen, also den Stoff oder den pathogenen Organismus (etwa ein Virus oder ein Bakterium), gegen den man einen Nanokörper entwickeln will. Das Immunsystem der Tiere reagiert darauf mit der Produktion von B-Lymphozyten, welche Antikörper gegen das Antigen synthetisieren. Aus solchen Lymphozyten isoliert man dann die DNA-Sequenzen, in denen die Information der Regionen der Kamelantikörper verschlüsselt ist, welche ihre Erkennungsreaktion ermöglichen. Den Rest übernehmen - im Vergleich zu Zellkulturen aus Säugetierzellen extrem kostengünstig - bereits Bakterien oder Hefezellen, in die man die isolierte genetische Information eingeschmuggelt hat.

Molekül-Umwandlung

Was an der Freien Universität Brüssel mit einem Studentenexperiment begann, ist zwei Jahrzehnte später Gegenstand industrieller Entwicklungsarbeit geworden; die Freie Universität Brüssel hat 2002 zu diesem Zweck eine Firma - Ablynx - gegründet, welche an der industriellen Umsetzung der Erkenntnisse arbeitet. Die Resultate des ersten klinischen Versuchs mit einer auf Nanokörpern basierenden Therapie werden in Kürze verfügbar werden.

Viele Forscher setzen große Hoffnungen in die Nanokörper-Technologie und werden darin durch die neuen Forschungsresultate bestärkt. Dafür ein Beispiel: Serge Muyldermans, ein Mitglied des ursprünglichen Forschungsteams, mittlerweile am Flämischen Institut für Biotechnologie tätig, hat 2004 einen Nanokörper gebaut, der sich an die Oberfläche vieler Tumorzellen bindet und diesem Molekül ein Molekül des Enzyms Lactamase angehängt. Dieses Molekül schafft es, in einer enzymatischen Reaktion ein nicht weiter toxisches Vorläufer-Molekül in ein extrem cytotoxisches Molekül umzuwandeln.

Muyldermans hat auch Bakterien dazu gebracht, dieses aus den zwei aneinander gekoppelten Teilen bestehende Molekül zu synthetisieren.

Der Nanokörper-Teil identifiziert die Tumorzellen, der Enzymteil produziert dann streng lokalisiert das für die Tumorzelle tödliche Cytotoxin. "Im Tierversuch" , so Muyldermans, " war das jedenfalls ganz unglaublich effektiv" .

Literatur:

Henry Nicholis. The camel factor: Nanobody revolution. "New Scientist" vom 3. Oktober 2007.

Virna Cortez-Retamozo et al.: Efficient Cancer Therapy with a Nanobody-Bases Conjugate. "Cancer Research" 64 (15. 4. 2004) 2853 - 2854.

"Ablynx:"http://www.ablynx.com.

Peter Markl ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien, wo er auch Methodik der Naturwissenschaften lehrte. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz-Instituts für Evolution und Kognitionsforschung und des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.