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Wann ist ein Sozialstaat gerecht?

Von Walter Hämmerle und Martina Madner

Politik

In sozialen Fragen driften Regierung und Opposition auseinander. Barbara Blaha und Martin Kocher im Gespräch.


Wien. Die Regierung will den Sozialstaat anders gestalten und für "mehr Gerechtigkeit" sorgen. Die SPÖ sieht in den Plänen dessen "Demolierung". Aber nüchtern betrachtet: Ist der Sozialstaat aktuell gerecht? Und: Wie soll/kann er verbessert werden? Damit setzen sich Barbara Blaha - Programmleiterin im Brandstätter Verlag, bis zu ihrem Austritt aus der SPÖ 2007 Studierendenvertreterin - sowie der Verhaltensökonom und IHS-Direktor Martin Kocher im Streitgespräch auseinander.

"Wiener Zeitung": Ist Gerechtigkeit ein relevanter Wert für den Staat? Politik kann auch wegen anderer Argumente gestalten?

Barbara Blaha:Selbstverständlich. Natürlich kann man auch mit Effizienzüberlegungen argumentieren, aber die aus meiner Sicht sehr viel wichtigere Frage lautet: Wie schaffe ich gesellschaftliche Mehrheiten, um einen Sozialstaat zu etablieren und diesen auch stark zu halten? Und für dieses Ziel ist das Argument der Gerechtigkeit natürlich ein entscheidender Faktor. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie sehr eine tatsächliche oder vermeintlich ungerechte Behandlung Geschwister bewegt.

Martin Kocher: Die Wirtschaftswissenschaften unterscheiden hier einen Zielkonflikt zwischen Gerechtigkeit und Effizienz: Mehr Gerechtigkeit führt zu einem Verlust an Effizienz, umgekehrt ist es natürlich genauso. Diesen Konflikt muss jede Gesellschaft so lösen, dass eine Mehrheit der Bürger den Kompromiss akzeptiert.

Blaha: Ich habe meine Zweifel, ob es sich mit dem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit immer so verhält, wie die Ökonomie behauptet. Man muss sich nur die Verwaltungskosten mancher öffentlichen und privaten Versorgungsleistungen anschauen, etwa bei den Pensionsversicherungen: Der Anteil der öffentlichen liegt hier bei etwa zwei bis drei Prozent, jener der privaten Pensionsversicherungen bei rund 30 Prozent. Muss also wirklich immer die private Dienstleistung effizienter als die öffentliche sein?

Kocher: Nein, das muss sie nicht. Die Gefahr ist aber, wenn etwas öffentlich und gerecht organisiert ist, dass es wenig Innovation und Dynamik gibt. Wettbewerb ist nun einmal ein sehr wirksames Mittel, um Innovation zu fördern, wobei es Einschränkungen von Wettbewerb auch im privatwirtschaftlichen Bereich gibt, etwa Patente, die Innovation belohnen.

Blaha: Das klingt so, als ob es im öffentlichen Bereich keine Innovationen gäbe, das ist natürlich nicht der Fall. Man muss nur an den riesigen und zentralen Bereich der Grundlagenforschung denken, der zum überwiegenden Teil mit staatlichen Mitteln finanziert wird. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für die USA: Ein großer Teil der Innovationen aus dem Silicon Valley entstand als Ergebnis öffentlich geförderter Grundlagenforschung.

Kocher: Einverstanden, wobei diese Mittel in Österreich wie in den USA fast ausschließlich nach Wettbewerbskriterien vergeben werden. Konkurrenz steht also auch hier im Zentrum.

Der österreichische Sozialstaat gehört zu den bestausgebauten Europas. Bremst das Eigeninitiative und Selbstverantwortung des Einzelnen?

Blaha: Ich glaube nicht, dass mehr Angst vor der Zukunft, die Innovation und Eigeninitiative des Einzelnen stärkt. Im Gegenteil: Nur wer keine Angst hat, dass er bei einem Scheitern vor dem Nichts steht, traut sich, ein Risiko auf sich zu nehmen, und wird Unternehmer oder erlernt einen neuen Beruf. Die zentrale politische Frage lautet deshalb für mich: Wie können wir einen fairen und starken Sozialstaat erhalten, eben weil so ein Netz sozialer Sicherheit Innovationen befördert und Engagement freisetzt?

Kocher: Hier stimme ich voll zu, der Versicherungsaspekt ist für den Sozialstaat wichtig. Die Frage ist aber, wie treffsicher ist unser Modell? Hier gibt es in Österreich schon einige Defizite.

Und zwar wo genau?

Kocher: Im Bereich der Pensionen gibt es mitunter zu viel Umverteilung: Hier führen relativ hohe staatliche Zuschüsse dazu, dass man als Einzelner nicht die Vorsorge trifft, die man eigentlich treffen könnte. Dagegen zeigt sich bei der Gruppe der Alleinerziehenden zu wenig Umverteilung.

Blaha: Sie sprechen hier einen wichtigen Aspekt an. Bei den Pensionskassen schauen wir etwa viel zu wenig, wer Bundeszuschuss braucht und wer nicht. Das wird aber nie öffentlich diskutiert. Und genauso wird über die Tatsache geschwiegen, dass natürlich die Lebenserwartung von den sozio-ökonomischen Faktoren jedes Menschen abhängt: Je besser gebildet, je höher das Einkommen, desto älter werden die Menschen. Das hat natürlich massive Folgen für die Pensionskassen: Jemand, der in der Wiener City wohnt, bezieht um 15 Jahre länger Pension als jemand aus Wien-Fünfhaus. Das ist eine fundamentale Ungerechtigkeit, über die niemand redet.

Kocher: Das stimmt, deshalb halte ich Chancengleichheit für einen der beiden wichtigen Punkte, auf die man sich als Staat konzentrieren muss, wenn es um soziale Absicherung geht. Der andere ist der Versicherungsaspekt des sozialen Systems. In der aktuellen Debatte werden beide völlig vermischt, das führt zu Verwirrung und hilft uns nicht weiter.

Blaha: Die Pläne der Regierung, die Versicherungsleistung bei Arbeitslosigkeit nach Dauer und Höhe der Versicherungsbeiträge zu bemessen, sind für mich geradezu unlauter. Das ist ja der Punkt des Versicherungsprinzips, dass beide getrennt werden. Das schaue ich mir an, wenn in die Wohnung von Sebastian Kurz drei Wochen nach Abschluss der Versicherung eingebrochen wird und es dann heißt, der Schutz greift nicht, weil zu kurz einbezahlt wurde.

Kocher: Grundsätzlich sehe ich das auch so. Bei Arbeitslosigkeit hängt aber das Risiko des Jobverlusts häufig mit dem Alter der Betroffenen zusammen, weshalb es viele Leistungen gibt, die Älteren helfen sollen, wieder eine Arbeit zu finden, obwohl das Versicherungsprinzip eigentlich vorschreiben würde, dass alle gleich behandelt werden. Das Problem ist real. Jetzt müssen wir entscheiden, ob Lösungen über die Versicherung finanziert werden oder über andere Maßnahmen.

Die "Aktion 20.000" sollte mit öffentlichen Mitteln Jobs schaffen, was die neue Regierung gestoppt hat. Ist es überhaupt Aufgabe der öffentlichen Hand, das zu tun, oder sollte sie nur den Rahmen abstecken?

Blaha: Warum nicht beides? Ich sehe zwischen diesen beiden Aufgaben keinen Widerspruch.

Kocher: Ich sehe da schon einen Widerspruch. Diese Aktion wollte ja ältere Arbeitnehmer über eine Stelle bei der öffentlichen Hand wieder fit machen für den privaten Arbeitsmarkt. Studien haben gezeigt, dass das nur sehr selten funktioniert. Da sind Qualifizierungsmaßnahmen oder die Senkung von Lohnnebenkosten für Ältere wahrscheinlich wirksamer.

Soll der Sozialstaat nur Armut vermeiden oder auch umverteilen?

Blaha: Das hängt letztlich vom Menschenbild ab, das wir als Gesellschaft vertreten. Ich plädiere eindeutig für Umverteilung, weil wir wissen, dass die Chancen ungleich verteilt sind zwischen den Reicheren und Ärmeren. Hier braucht es einen Ausgleich. Und davon profitieren am Ende ja auch die Vermögenden. Es gibt diesen Satz eines US-Bundesrichters, der sagt: "Ich zahle gerne Steuern, ich kaufe mir damit Zivilisation."

Kocher: Dass es einen gewissen Ausgleich geben muss, ist unbestritten. Im europäischen Vergleich ist in Österreich Einkommen, das durch Arbeit entsteht, relativ ungleich verteilt. Staatliche Transfers sorgen aber dafür, dass die Gesamteinkommen weit egalitärer verteilt sind.

Politik versucht, mit Anreizen und Sanktionen das Verhalten der Bürger zu beeinflussen. Funktioniert der Mix aus "Zuckerbrot und Peitsche" in Österreich?

Kocher: Die einstige Überzeugung, dass der Mensch nur auf monetäre Anreize reagiert, ist passé. Aus der Verhaltensökonomie wissen wir, dass auch andere Mechanismen eine Rolle spielen: Macht, Prestige, Empathie und viele andere. Menschen reagieren auf Anreize, aber sie sind eher träge, bereiten sich nicht gut genug auf die Zukunft vor, sparen zu wenig, investieren zu wenig in ihre Gesundheit und Bildung. Wir wissen aus Studien, dass es beides geben muss, Belohnung und Bestrafung, einen Mix aus Fordern und Fördern. Die richtige Mischung zu finden, ist politisch schwierig, deshalb ist es notwendig, Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Das machen wir viel zu wenig.

Blaha: Internationale Beispiele zeigen durchaus, ob Dinge funktionieren. Hartz IV hat in Deutschland zu keiner Reduktion von Langzeitarbeitslosigkeit geführt, das ist einfach kein Erfolgsmodell. Nur der Druck, schlechter bezahlte Jobs annehmen zu müssen, sodass Kinder in Armut aufwachsen, ist größer. Aber die Vision, dass Langzeitarbeitslose durch Hartz IV Arbeit finden, wenn sie sich nur genug anstrengen, das ist einfach eine Lüge. Auch in Sachen Altersarmut kommt auf Deutschland durch Hartz IV mittelfristig noch ein Desaster zu. Das muss man in der Bewertung des Modells berücksichtigen.

Kocher: Hartz IV hat allerdings auch positive Aspekte. Ja, der Druck, einen Arbeitsplatz anzunehmen ist gestiegen. Es sind aber auch viele neue Jobs geschaffen worden, und die Anzahl der sogenannten Aufstocker ist gesunken. Dazu hat sicher auch die Konjunktur beigetragen. Langzeitarbeitslosigkeit ist dagegen tatsächlich ein sehr viel komplexeres Problem: Es gibt mitunter zwar mangelnde Bereitschaft, einen Job anzunehmen. Das ist aber nicht das so große Problem, sondern mangelnde Qualifikation und Gesundheit. Vor allem bei Älteren kann ich Druck ausüben, so viel ich will, die erhalten dadurch sicher nicht schneller einen Job. Da hat auch Hartz IV versagt.

Blaha: Man muss auch überlegen, was man macht, wenn man sich auf den privaten Sektor nicht verlassen kann und Unternehmen sagen, über 50-Jährige beschäftige ich nicht mehr. Da gab es von der letzten Regierung das Bonus-Malus-System, allerdings lächerlich dotiert. Denn nur weil jemand den fünfzigsten Geburtstag erreicht, ist er doch nicht wertlos, das ist volkswirtschaftlich doch ein Irrsinn. Es sind oft die Kosten, wegen der man freigesetzt und durch jemand, der 20 Jahre jünger ist, ersetzt wird. Darüber müsste man reden. Und ein zweiter Punkt ist die Lohngerechtigkeit. Wir reden viel zu wenig darüber, was wie viel wert ist. Die unangenehmsten, anstrengendsten und gefährlichsten Arbeiten sind am schlechtesten bezahlt. Warum verdient jemand, der den Müll abholt, um so viel weniger als der, der an der Börse spekuliert?

Kocher:Da muss ich als Ökonom kurz eingreifen. Eine unserer Grunderkenntnisse ist, dass der Wert durch die Gesellschaft bemessen wird. Offensichtlich wird der Wert von Pflege gering bemessen, weil sie kaum spezifische Fähigkeiten erfordert, und es zu viel Angebot am Arbeitsmarkt gibt.

Blaha: Deshalb müssen wir sie aus der Slowakei holen?

Kocher: Der Wert von Arbeit wird durch den Käufer bemessen, den kann Politik nicht direkt beeinflussen, er wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt.

Blaha: Indirekt kann er schon beeinflusst werden, indem es einen Mindestlohn oder Sozialtransfers gibt. Das ist keine Blackbox.

Kocher: Wenn ein Anheben der Einkommensuntergrenze nur eine kleine Anzahl an Personen betrifft, dann hat das keine großen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Wenn wir aber einen Mindestlohn von 2500 Euro einführen würden, gingen natürlich Arbeitsplätze verloren. Man kann ökonomische Gesetze schlecht finden, aber schwer außer Kraft setzen.

Blaha: Das System wird von Menschen gemacht und kann von ihnen verändert werden.

Pflege ist ein Bereich, wo Angebot und Nachfrage politisch sehr stark beeinflusst wird: etwa über öffentliche Angebote wie Pflegeheime oder Pflegegeld. Soll der Staat hier mehr tun? Oder muss man Pflege privat finanzieren, was die Löhne der dort Arbeitenden senken würde?

Blaha: Auf Pflege kann jede und jeder einmal angewiesen sein. Es ist ein Risiko, das der Einzelne nur schwer und unter ausbeuterischen Bedingungen tragen kann: Leidtragende sind vor allem Frauen, die nur in Teilzeit arbeiten, weil sie jemanden pflegen und dadurch nicht nur weniger verdienen, sondern auch viel geringere Pension erhalten. Aber was bleibt übrig, wenn sich eine Familie keine 24-Stunden-Pflege leisten kann? Pflege ist ein klassisches Beispiel, das wir gesamt gesellschaftlich schultern müssten. Mir ist nicht klar, warum wir uns gegen dieses Risiko nicht wie gegen Arbeitslosigkeit versichern.

Kocher: Pflege ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wo sich Gesellschaft und Politik seit Jahren vor Entscheidungen drücken. Das sieht man bei der 24-Stunden-Pflege besonders, ein System, das letztlich nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann und unehrlich ist. Man muss sich entscheiden, ob man das aus öffentlicher Hand macht und wo man sonst einspart oder privat. Denn das ist ein dynamischer Bereich, wo die Ausgaben in den nächsten 20 Jahren massiv steigen werden.

Blaha: Die Gesellschaft drückt sich nicht. Einzelne, die pflegebedürftige Eltern haben, müssen sich um Pflege kümmern. Genau die aber haben nicht die Zeit, sich politisch zu engagieren, sondern brauchen diese für ihre Eltern. Es ist die Politik alleine, die hier herumlaviert und glaubt, solange es da keine großen Proteste gibt, braucht man nicht hinzuschauen.

Ist der Zugriff auf Vermögen gerecht oder eine himmelschreiende Ungerechtigkeit?

Kocher: Das ist schwierig zu beurteilen. Da geht es nicht nur um das Individuum selbst, sondern auch um die Frage, wie lange auf die Erbschaft oder Schenkung zugegriffen wird. Es spricht vieles dafür, dass man das auf individueller Ebene löst, entweder staatlich oder privat, ohne die Interaktion über die Kinder.

Über Regress wird auch bei Arbeitslosigkeit debattiert. Wann soll die Solidarität der Gesellschaft enden und die Einzelverantwortung jener mit Vermögen einsetzen?

Kocher:Wenn man berufsunfähig wird, ist das Schicksal, das der Staat absichern soll. Wenn ich aber nicht arbeiten will, ist es zulässig, dass der Staat auf Vermögen nach einer bestimmten Zeit zugreift. Die Frage ist aber, wo diese Grenze liegt. Letztlich geht es darum, ein gerechtes System zu finden, von dem die Leute glauben, dass man es nicht ausnutzen kann. Deshalb glaube ich, dass der Vermögensregress bei der Arbeitslosigkeit, auch wenn er nur 500 Leute betreffen sollte, für mehr Gerechtigkeitsgefühl sorgen kann.

Blaha: Die Regressdebatte ist keine Gerechtigkeitsdebatte, sondern eine massive Neiddebatte. Die vielen arbeitslosen Jungmillionäre gibt es nicht. Da wird diskursiv eine Pappfigur aufgebaut und dahinter werden viele abgeräumt, die zwar keine Eigentumswohnung, wohl aber ein kleines Sparbuch haben. Um die geht es letztendlich. Und wenn es um eine Gerechtigkeitsdebatte geht, warum führen wir die dann nicht mal über Steuern? Stichwort: Vermögen, Erbschaften, Schenkungen.

Kocher:Den Jungmillionär gibt es vermutlich nicht, aber 40-, 50-Jährige, die etwas Vermögen haben, schon. Es geht auch nicht um die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, sondern um die Akzeptanz eines treffsicheren Systems.

Blaha: Solange wir uns damit auseinandersetzen, ob Langzeitarbeitslose 3000, 4000 oder 5000 Euro auf dem Sparbuch haben dürfen, reden wir nicht über Unternehmensbesteuerung oder die großer Erbschaften, und führen keinen Gerechtigkeitsdiskurs, so wie ich ihn mir wünsche.

Kocher: Dem kann ich durchaus zustimmen. Wir müssen über Gerechtigkeit in allen Bereichen reden. Es macht aber nur Sinn, wenn alle gleichermaßen betroffen sind, weil sich sonst sofort jemand ungerecht behandelt fühlt. Das tun Menschen immer dann, wenn willkürlich Grenzen gesetzt werden, wie sie die SPÖ bei Schenkungs- und Erbschaftssteuer zuletzt mit einem Freibetrag von einer Million Euro vorgeschlagen hat. Warum eine Erbschaft über eine Bagatellgrenze hinaus, zum Beispiel ein Haus im Wert von 300.000 Euro, ausgenommen sein soll, verstehe ich nicht.

Stichwort Mindestsicherung: Ist es gerecht, dass jemand sie nach kurzer Zeit in Österreich genauso erhält wie jemand, der davor 30 Jahre Abgaben bezahlt hat?

Blaha: Die Mindestsicherung ist keine Versicherungsleistung, sondern ein Sozialtransfer. Man kann sagen, es ist mir egal, wenn anerkannte Flüchtlinge, die noch Deutsch lernen müssen oder deren Qualifikationen noch nicht anerkannt sind, auf der Straße sitzen. Oder ich sorge zumindest für minimale zivilisatorische Standards. Wenn ich es mir aussuchen darf, dann erhalten sie natürlich diese. Die Alternative ist, dasselbe Geld für Obdachlosenhilfe und Verbrechensbekämpfung zu investieren. Irgendwie müssen die Leute ja über die Runden kommen.

Setzt unser Sozialsystem zu viele Anreize für Flüchtlinge?

Blaha: Zur Push- oder Pull-Faktor-Diskussion: Die Zahlen zeigen, dass die meisten Flüchtlinge nicht nach Europa kommen, sondern in der Türkei oder im Libanon landen. Das sind Länder ganz ohne Sozialsystem, die weit mehr Flüchtlinge aufnehmen. Und wenn ich nach Deutschland schaue, ist das Sozialsystem dort weit nicht so gut wie bei uns, und trotzdem flüchten viele dorthin. Die Leute kommen, weil in ihrer Heimat unerträgliche Zustände herrschen und nicht, weil sie sich die WGKK-Homepage angesehen haben.

Kocher: Ein Flüchtling ist kein Homo oeconomicus. Erst muss man überlegen, wie kann ich die Integration für jene mit Aufenthaltstitel bewerkstelligen. Und erst dann kann ich mir Gedanken über Pullfaktoren der Maßnahmen machen, die empirisch nicht so leicht nachzuweisen sind. Die Regierung aber zäumt das Pferd von hinten auf. Integration kostet zwar, aber das sind Investitionen, die wir auf alle Fälle brauchen und der entscheidende Punkt, wenn man den Sozialstaat nicht belasten will.