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Wo kein Wille, da kein Weg

Von Walter Hämmerle

Politik

Vor 85 Jahren, am 4. März 1933, nutzte Dollfuß eine Abstimmungspanne, um den Nationalrat auszuschalten.


In der ohnehin bereits angeschlagenen Ersten Republik streiken am 1. März 1933 die Eisenbahner. Wieder einmal, und auch dieses Mal mit gravierenden Folgen. Mit einem Demonstrationsstreik, heute würde man es Warnstreik nennen, protestieren sie gegen die Auszahlung ihrer März-Gehälter in drei Raten. Am 4. März, ein Samstag, kommen die Abgeordneten des Nationalrats zu einer von der Sozialdemokratie einberufenen Sondersitzung zusammen, wobei die Fronten klar sind: Sozialdemokraten und Großdeutsche stellen sich hinter die Eisenbahner und fordern eine Rücknahme der Strafmaßnahmen, welche die regierenden Christlichsozialen unter Kanzler Engelbert Dollfuß gegen die Streikenden erlassen.

Die Eskalation ist der allgemeinen Zuspitzung geschuldet, alle stehen unter enormem Druck. Dabei ist der eigentliche Anlass läppisch: Der Warnstreik ist nur auf zwei Stunden, zwischen 9 und 11 Uhr, angesetzt. Aber die Regierung betrachtet ihn trotzdem als sachlich ungerechtfertigt, weil die ausgegliederten Bundesbahnen unter enormen wirtschaftlichen Problemen leiden, und als politische Provokation. Die Sozialdemokraten wiederum betonen, am Streikaufruf festhalten zu müssen, um überhaupt mäßigend auf die aufgebrachten Eisenbahner wirken zu können. Tatsächlich stehen die nationalen Gewerkschafter hinter dem Protest, die bereits damals zu 80 Prozent aus Nationalsozialisten bestehen.

So stehen auf jeder Seite Getriebene. Die roten Gewerkschafter wollen sich nicht nachsagen lassen, sie würden gegenüber der Regierung klein beigeben und nur die Nationalen/Nazis hätten den Mut, sich der unpopulären Regierung entschlossen entgegenzustellen. Und für die Regierung Dollfuß gilt es, politischen Unruhestiftern keine Handbreit nachzugeben. Schließlich tobt zur selben Zeit in Deutschland ein erbitterter Wahlkampf, bei dem Nationalsozialisten auch vor Terror nicht zurückschrecken. Entsprechend hart greift sie durch, veranlasst Lohnkürzungen, Suspendierungen und etliche, wenngleich nur kurzfristige Verhaftungen. Das alles auf der rechtlichen Grundlage eines Verordnungsrechts, das noch aus der Monarchie stammt. Natürlich trägt das nicht zur Beruhigung bei.

Als neutrale Stimme sei der "Österreichische Volkswirt" zitiert, eine der Regierung kritisch gegenüberstehende Publikation, die den Streik folgendermaßen kommentiert: Dieser sei nur so zu erklären, "dass in diesem Betrieb drei Gewerkschaften in Wettbewerb stehen, deren keine sich von der anderen überbieten lassen kann. Keine allein verantwortliche Gewerkschaft hätte diesen Streik angeordnet oder geduldet, denn er war der unsinnigsten einer" (zitiert nach der voluminösen Biografie Franz Schausbergers über Franz Ramek, Böhlau Verlag 2017).

Das ist der Hintergrund, vor dem die Situation am 4. März ihre dramatische Wende nimmt. Behandelt werden insgesamt drei Anträge. Der sozialdemokratische, der die Regierung aufforderte, die Gehälter umgehend auszuzahlen und sämtliche Sanktionen gegen die Streikenden umgehend zurückzunehmen, scheitert deutlich mit 91 Nein- zu 70 Ja-Stimmen; der Antrag der Großdeutschen, nur von den Sanktionen abzusehen, wurde dagegen mit 81 Ja- und 80 Nein-Stimmen angenommen. Eine schwere Schlappe für die Regierungsparteien.

Darüber, ob nun über den christlichsozialen Antrag überhaupt noch abgestimmt werden könne, entbrennt nun eine hitzige, aber ergebnislose Debatte. Karl Renner, der Erste Nationalratspräsident und führende Sozialdemokrat, unterbricht die Sitzung und beruft das Präsidium ein. Hier nun wird entdeckt, dass sich bei der Auszählung der Stimmen für den (klar abgelehnten) sozialdemokratischen Antrag zwei Stimmzettel finden, die auf den Namen eines Sozialdemokraten lauten, aber keiner mit dem Namen seines Sitznachbarn, obwohl beide nachweislich an der Abstimmung teilgenommen haben. Und das gleiche Malheur ereignet sich auch bei der so knappen Abstimmung über den Antrag der Großdeutschen.

Ausgerechnet in dieser heiklen Situation verheddert sich der parlamentarische Vollprofi Renner in der Geschäftsordnung. Die Regierungsparteien beharren auf einer Korrektur des Abstimmungsergebnisses auf 80:80, da in ihren Augen die eine Stimme ungültig ist; Renner sieht keinen Bedarf für eine Korrektur und will mit der Tagesordnung fortfahren.

Die Aufregung darob ist groß, worauf die rote Parteiführung Renner aufträgt, von seinem Amt zurückzutreten, um bei einer Wiederholung des Votums stimmberechtigt zu sein (Nationalratspräsidenten sind es damals nicht).

Nun rückt der Christlichsoziale Rudolf Ramek, der Zweite Nationalratspräsident, in Renners Amt nach und erklärt die knappe Abstimmung für ungültig. Der besonnene Salzburger will die Abstimmung wiederholen lassen, doch dagegen protestieren sowohl die Christlichsozialen, die eine erneute Niederlage zu erwarten hatten, wie auch die Sozialdemokraten, die auf dem ersten Ergebnis beharren. Ohne den Rückhalt der beiden größten Parteien tritt daraufhin auch Ramek von seinem Amt zurück - und ist nun ebenfalls stimmberechtigt. Warum die Sozialdemokratie sich gegen eine Wiederholung querlegt, bleibt ein Rätsel, schien ihr doch eine Mehrheit gewiss, zumal mit einem nicht stimmberechtigten Ramek.

Das Chaos perfekt macht dann der Großdeutsche Sepp Straffner, der sich als letzter im Amt verbliebener Nationalratspräsident nun ebenfalls freiwillig zum einfachen, dafür aber stimmberechtigten Abgeordneten degradiert. Der Nationalrat ist damit durch eigenes Verschulden handlungsunfähig geworden. Kurz vor 22 Uhr am 4. März verlassen die Abgeordneten den Sitzungssaal.

Möglichkeiten, aus der verfahrenen Lage mit demokratischen parlamentarischen Mitteln herauszukommen, hätte es durchaus gegeben. Allein, die Christlichsozialen mit Kanzler Dollfuß an der Spitze dachten nicht daran, das Geschenk eines von sich selbst lahmgelegten Nationalrats abzulehnen. Wo kein Wille ist, kann sich auch kein Weg finden. Also beschließt die Kanzlerpartei, für "einige Zeit" ohne Parlament und damit autoritär zu regieren. Als die Abgeordneten am 15. März sich neu versammeln wollen, hindert sie die Polizei am Betreten des Parlaments. Mithilfe des "kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes" von 1917 vollzieht Dollfuß einen Staatsstreich auf Raten. Bundespräsident Wilhelm Miklas schaut all dem tatenlos zu. Der Weg in den Untergang der Republik ist damit vorgezeichnet.

Am Sonntag, den 5. März, siegten in Deutschland übrigens die Nationalsozialsten.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka lädt am Montag, 5. März um 17 Uhr, zu einer Gedenkveranstaltung in den Großen Redoutensaal der Wiener Hofburg. Dabei diskutieren der Politologe Anton Pelinka sowie die Historiker Ernst Bruckmüller und Lothar Höbelt.