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Zeitgeschichte im Wandel

Von Brigitte Pechar

Politik

Am 12. März jährt sich der "Anschluss" zum 80. Mal. Wie Österreich über Jahrzehnte die Opferthese verfolgte.


Wien. Am Abend des 11. März 1938 hat der damalige christlichsoziale Bundespräsident Wilhelm Miklas nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg auf Druck des Hitler-Regimes in Deutschland den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum österreichischen Bundeskanzler ernannt. Dessen erste Amtshandlung war die Vorlage des Anschlussgesetzes. Noch vor dem Einmarsch deutscher Einheiten lösten also österreichische Nazis das austrofaschistische Ständestaatsregime ab, das Engelbert Dollfuß 1933 nach der Ausschaltung des Nationalrats begründet hatte. Ab dem 12. März 1938 haben Wehrmacht-, SS- und Polizeieinheiten, die unter Jubel der österreichischen Bevölkerung einmarschiert sind, das Kommando übernommen. An deren Spitze stand Adolf Hitler selbst.

Die neue österreichische NS-Regierung hatte rasch gehandelt und das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich - selbstverständlich ohne Parlament, das es ja nicht mehr gab - noch am 13. März in Kraft gesetzt. Damit endete die rechtliche Existenz des austrofaschistischen Österreich.

Was danach folgte, ist noch immer Teil der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung. Das Bild Österreichs als erstes Opfer des deutschen Nationalsozialismus wurde sehr lange aufrechterhalten.

Es ist der Moskauer Deklaration von 1943 geschuldet, einer Erklärung der Außenminister Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten, in der es heißt, "dass Österreich, das erste freie Land (war), das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und nichtig." Darauf baute die Opferthese und historische Auseinandersetzung der Zweiten Republik zumindest bis in die 1990er Jahre.

Es braucht 20 Jahre, bis sich eine Erkenntnis manifestiert

Obwohl es schließlich 1986 - immerhin 41 Jahre nach Kriegsende - im Zuge der sogenannten Waldheim-Affäre zu bröckeln begann. Es braucht etwa 20 Jahre, bis ein nicht mehr zeitgemäßer Ausdruck dann tatsächlich auch aus den Köpfen der Menschen entfernt werden kann, sagt Gerhard Botz, einer der Väter der österreichischen Zeitgeschichte im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Beziehungsweise, bis das neue Denken in den Köpfen verankert ist.

Und er führt ein aktuelles Beispiel an: Die Burschenschafter und jene Teile von ihnen, die noch immer rassistisches und antisemitisches Liedgut in ihren Reihen haben. "Es wird Rechtfertigungsversuche, Schönredereien, Lügen geben, aber die derzeitige Debatte wird auch einen Umdenkprozess einleiten", sagt Botz. "Jetzt erfahren diese Burschenschafter, dass sie ihre Worte kontrollieren müssen, wenn sie Funktionen in der Regierung oder in Kabinetten übernehmen. In 20 Jahren werden sie sich daran gewöhnt haben, dass sie nicht erwähnen dürfen, was sie jetzt noch sagen."

Es sei denn, die Ergebnisse politischer Bildung würden in sich zusammenbrechen, der bestehende Konsens grundlegend in Zweifel gezogen werden. "Wenn diese Barrieren brechen würden, gäbe es keine Grenze mehr", befürchtet Botz, der allerdings davon ausgeht, dass das internationale Korrektiv zu stark wäre - in dem Sinn: "Ihr könnt keine Europäerinnen sein, wenn ihr die Nazi-Welt verklärt!"

Tatsächlich ist Zeitgeschichte ein mühsames Unterfangen. Es braucht einerseits akribisches Forschen in den Archiven, die nicht immer zugänglich waren, und es braucht vor allem auch die Bereitschaft derjenigen, die die Zeit erlebt haben, darüber zu reden.

Seit 1979 gehen Zeitzeugen an die Schulen

Zeitzeuginnen sind eine wertvolle Quelle, wenn es um Aufarbeitung der Geschichte geht. Aber diese Quelle steht tatsächlich erst seit Ende der 1970er Jahre zur Verfügung. Der damalige Unterrichtsminister Fred Sinowatz (SPÖ) hat Zeitzeuginnen für die Schulen gewonnen und das Programm durchgesetzt. Von ihnen gibt es immer weniger. Das ist der Fluss der Zeit. Aber selbst die Zeitzeuginnen, so Botz, hätten zu Beginn ihres Gedankenaustausches mit den Schülerinnen nicht von ihren persönlichen Erlebnissen, sondern viel allgemeiner gesprochen. Und zwar nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht konnten.

"Es braucht sehr viel zeitlichen Abstand, dass Verfolgte über Verfolgung reden können", sagt Botz und verweist auf die deutsche Historikerin Barbara Stambolis, die ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass die Opfer des NS-Regimes bis in die 1980er Jahre nicht erzählen konnten, was ihnen passiert ist. Das trifft im Übrigen auch auf die Täter und Täterinnen zu. Bei diesen ist das aber häufig damit verbunden, dass sie strafrechtlich belangt werden könnten, wenn sie erzählen. "Die Verfolgung und die Mitwirkung an Verfolgung - selbst nur das Zuschauerin-Sein - ist schwierig zu beschreiben. Die Opfer reden nicht, auch die Opfer-Kinder schweigen. Überall dasselbe Bild", sagt Botz, der auf eine unerschöpfliche Erfahrung aus Gesprächen zurückgreifen kann.

Ein Beispiel für den ganz frühen Terror an Jüdinnen in Österreich und deren Sprachlosigkeit, sagt Botz, sei die Geschichte des Verlegers Frederic P., der seinen straßenwaschenden Vater ablöste, indem er sich den Nazis an seiner statt anbot. Über diese Demütigung konnte P. erst in den 2000er Jahren reden.

In den ersten Wochen nach dem "Anschluss" mussten Jüdinnen noch keinen Stern tragen, waren also nicht sichtbar. Der Nazi-Terror konnte sich daher nur über jene ergießen, die denunziert wurden. In diese Zeit fielen auch Straßenwaschaktionen und andere Malträtierungen. Bereits mit den Novemberpogromen 1938 begann die systematische Vertreibung, Enteignung und dann Vernichtung der Jüdinnen.

Diese Sprachlosigkeit können nur wenige Opfer überwinden. Eines von ihnen war Margarete Glas-Larsson. Mit ihr hat Botz in 60 Stunden über Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz gesprochen. Das Ergebnis war das Buch "Ich will reden!", das 1981 - also 40 Jahre nach Beginn ihres Martyriums - mit einem Vorwort des damaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky versehen - erschienen ist. Aber wie hat die Auseinandersetzung mit der Nazizeit in Österreich überhaupt begonnen? Da war einmal nichts. Nach dem Krieg 1945 waren die Parteien - und in Österreich waren es die Parteien, die das Land als eigenständigen Staat wiederhergestellt haben - damit beschäftigt, Land und Leute wieder zu ermächtigen.

Entnazifizierung endete sehr bald wieder

Es ist darum gegangen, Wirtschaft und Gesellschaft, die staatlichen Institutionen neu aufzubauen. Unter dem Druck der Alliierten kam es allerdings auch zu einer "Entnazifizierung". Von den fast 700.000 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern wurden nach 1945 rund 540.000 registriert, davon galten 98.330 als "Illegale", also als Personen, die schon zur Zeit des Verbots der NSDAP (zwischen Juli 1933 und März 1938) in Österreich Parteimitglieder gewesen waren. All diese Nazis mussten Straf- und Sühneabgaben leisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen; aber auch in der Privatwirtschaft wurden 36.000 Personen entlassen und 960 Personen in führenden Positionen in Staat und Wirtschaft waren ebenfalls betroffen. Das Nationalsozialistengesetz von 1947 teilte registrierungspflichtige Personen in "Belastete" und "Minderbelastete".

Die "Minderbelasteten" erhielten mit dem NSG 1947 wieder das aktive Wahlrecht. Im April 1948 beschloss der Nationalrat die "Minderbelastetenamnestie", durch die laut Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) rund 500.000 Personen amnestiert wurden. Damit hat auch das politische Werben um die Ehemaligen in den Parteien begonnen.

Die Politik hat sehr rasch über die politische Vergangenheit zahlreicher Akteurinnen hinweggeschaut. Allgemein war man froh darüber, die Kriegsjahre hinter sich zu haben und sich der Zukunft zuwenden zu können. Alle - jede Einzelne aus anderen Gründen - wollten diese Zeit vergessen. "Die Geschichte war stillgelegt", sagt Botz über diese Nachkriegszeit.

Der Fall Borodajkewycz rüttelte erstmals auf

Erst in den 1960er Jahren wurde der erste Riss sichtbar. So erfuhr zum Beispiel der Prozess gegen den früheren SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann von April bis Dezember 1961 in Israel internationale Aufmerksamkeit und führte naturgemäß auch in Österreich zu Diskussionen - nicht zuletzt unter der Studentinnenschaft. Nahezu gleichzeitig begann der damalige Welthandel-Student Ferdinand Lacina, die unsäglichen antisemitischen Auslassungen des damaligen Professors an der Hochschule für Welthandel, Taras Borodajkewycz, mitzuschreiben. Borodajkewycz zog über "die jüdische Suffragette und Massenaufpeitscherin Rosa Luxemburg" her, nannte linke Politikerinnen "Kaffeehausjuden", ätzte über die jüdische Herkunft des österreichischen Verfassungsschöpfers Hans Kelsen ("Er hieß ja eigentlich Kohn") und bezeichnete den Tag der Hitler-Rede am Heldenplatz am 15. März 1938 als einen der wichtigsten seines Lebens.

Die Verbreitung der Mitschriften von Lacina mithilfe von Heinz Fischer führte zu immer heftigeren Studierendenprotesten und kulminierte schließlich in der großen Demonstration am 31. März 1965, bei der Ernst Kirchweger von einem Neonazi zusammengeschlagen wurde und drei Tage später an seinen Verletzungen gestorben ist. Es sei eine innenpolitische Situation entstanden, die an die Zwischenkriegszeit erinnerte, sagt Botz heute.

Dennoch: die Debatten führen in den 1960er Jahren zu einem Reformklima, das einerseits von katholischer Seite (Friedrich Heer, Erika Weinzierl, der junge Anton Pelinka) und auf der anderen Seite linke Studenten und Studentinnen und Wissenschafter und Wissenschafterinnen beförderten. "Bis in die frühen 1960er Jahre war in der österreichischen Geschichte alles zu Ende mit dem Ersten Weltkrieg", erzählt Botz. Aber im Vorfeld von 1965 - also zum Jubiläum 20 Jahre Kriegsende - plante die damalige große Koalition eine historische Aufarbeitung des österreichischen Widerstandes - noch ganz in der Tradition der Opferrolle Österreichs.

1965 legte den Kern für das Institut für Zeitgeschichte

"Zu der Zeit gab es an den Universitäten keine systematische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, die Geschichte hat geendet mit dem Ende Österreichs, der Okkupation. Was nachher gekommen ist, hat man kaum gewusst", sagt Botz.

Langsam aber hat sich Widerstandsforschung manifestiert. Botz nennt hier exemplarisch Herbert Steiner, der später Mitbegründer des DÖW sein sollte. Das bereits genannte Forschungsprojekt, das der damalige ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel - mit dem damaligen Außenminister Kreisky und Justizminister Christian Broda (SPÖ) als treibende Kräfte im Hintergrund - in Auftrag gegeben hat, führte schließlich zu einer kommentierten Dokumentensammlung über den österreichischen Widerstand. Maßgeblich beteiligt waren daran Ludwig Jedlicka, Anton Staudinger, Gerhard Jagschitz. Auch Karl Stadler war als Berater damals schon dabei. "Diese Dokumentation ist der Kern des Instituts für Zeitgeschichte geworden", berichtet Botz, der als Student ebenfalls schon mitgearbeitet hat und später an dieses Institut als Professor zurückkehren sollte.

Die Beschäftigung mit dieser Dokumentation habe auch dazu geführt, "dass erstmals die Nazizeit ins Bewusstsein getreten ist. Und zwar in der breiten Sicht. Der Widerstand der Arbeiter, der Kommunisten, der Katholiken."

Botz selbst hat bereits in den 1960er Jahren mit der Aufarbeitung der Nazizeit in Wien begonnen und seither zahlreiche Werke verfasst, einige davon beschäftigen sich mit Oral History. Er hat 1982 das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft gegründet. Als Professor am Institut für Zeitgeschichte hat er Ende der 1990er Jahre Umfragen unter den Studentinnen zur Nazizeit gemacht - und selbst damals noch haben zahlreiche Studierende zu Papier gegeben, dass sie von einer Mittäterschaft von Österreicherinnen und Österreichern in der Nazizeit nichts wüssten.

Vranitzkys Erklärung im Nationalrat 1991

Und Derartiges kam von an Geschichte Interessierten. Zu einer Zeit, als die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims im Bundespräsidentschaftswahlkampf 1986 zu massiven Debatten im ganzen Land geführt hat, mit Auseinandersetzungen innerhalb der Familien.

Im zeitlichen Umfeld zu dieser Waldheim-Diskussion und des Gedenkjahres 1988 hat ein schrittweises Abrücken von der Opferthese begonnen. Am 8. Juli 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky im Nationalrat die positive Einschätzung der "ordentlichen Beschäftigungspolitik" des Nationalsozialismus durch den damaligen Kärntner Landeshauptmann und FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider zum Anlass für eine Einschätzung der Rolle Österreichs in der Geschichte genommen: "Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten. Dieses Bekenntnis haben österreichische Politiker immer wieder abgelegt. Ich möchte das heute ausdrücklich auch im Namen der Österreichischen Bundesregierung tun: als Maßstab für das Verhältnis, das wir heute zu unserer Geschichte haben müssen, also als Maßstab für die politische Kultur in unserem Land, aber auch als unseren Beitrag zur neuen politischen Kultur in Europa." (Zitiert nach Manfred Jochum: "80 Jahre Republik".)

Diese Rede fand damals als eines der wenigen Ereignisse in Österreich sogar Eingang in die Berichterstattung US-amerikanischer Printmedien.

Ein Resultat dieses veränderten Geschichtsbildes ist die Einrichtung des Nationalfonds 1995, der Leistungen an NS-Opfer, insbesondere an Personen, die keine oder eine völlig unzureichende Leistung erhalten hatten, eingerichtet. In der Folge (2001) dotierte die Republik gemeinsam mit der Wirtschaft einen Entschädigungsfonds in Höhe von 210 Millionen US-Dollar für Opfer und Zwangsarbeiterinnen des Nationalsozialismus.

Schließlich hat die Regierung Ende 1998 auch eine Historikerinnenkommission eingesetzt, deren Aufgabe es unter der Leitung von Clemens Jabloner war, "Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen (sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945" zu erforschen und darüber zu berichten. Im Februar 2003 wurde der 14.000 Seiten umfassende Bericht vorgelegt.

Spätestens also Anfang der 2000er Jahre sollte es im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung sein, dass Österreich nicht nur Opfer, sondern auch Täter war. Dass dem aber noch immer nicht so ist, bestätigt eine Studie von Sora aus dem Jahr 2017. Da zeigt sich, dass im Vorfeld des diesjährigen Gedenkjahres - 100 Jahre Republik, 85 Jahre Ausschaltung des Parlaments, 80 Jahre "Anschluss" - immerhin noch 15 Prozent der Bevölkerung (die Schwankungsbreite beträgt 3,1 Prozent) der Opferthese voll anhängen und weitere 15 Prozent teilweise zustimmen.

Besonders bemerkenswert findet der derzeitige Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Uni Wien, Oliver Rathkolb, die Tatsache, dass vor allem die Jahrgänge ab 1983 zwar über ein historisches Faktenwissen verfügen, aber keine persönliche Meinung dazu haben. "Da stehen wir vor einem Problem", resümiert Rathkolb. Es bleibe also noch sehr viel zu tun - zumal es fast keine Zeitzeugen mehr gebe.